Zur Gründung der Demokratischen Republik Aserbaidschan am 28. Mai 1918

Zur Gründung der Demokratischen Republik Aserbaidschan am 28. Mai 1918

28. мая 2021 0 Автор Dr. Michael Reinhard Heß
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Dr. Michael Reinhard Heß

Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe. Thema der Habilitation waren Leben und Sprache des aserbaidschanischen Dichters İmadәddin Nәsimi (1370–1417).

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Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.

Die Februarrevolution von 1917 markiert das Ende eines Zeitalters und den Beginn einer neuen historischen Phase, die in vielfacher Hinsicht bis in unsere Gegenwart reicht. Auf die Abdankung Kaiser Nikolais II. (15. März 1917) folgt die Errichtung einer „Vorübergehenden Regierung Russlands“ (Vremennoe pravitel´stvo Rossii).

Die Vorübergehende Regierung interessiert sich rasch für den Südkaukasus, der vor allen Dingen wegen der Erdölreserven Aserbaidschans von lebenswichtiger Bedeutung für die Zukunft Russlands war. Am 22. März schafft die Vorübergehende Regierung das Amt des Vizekönigs (Namestnik) in Transkaukasien ab. An seine Stelle wird das „Spezielle Transkaukasische Komitee (Osobyj zakavkazskij komitet, abgekürzt Ozakom) eingerichtet, dem Russen und Angehörige der drei südkaukasischen Hauptethnien angehören. Allerdings bleibt die Macht des Ozakom in dieser Phase weitgehend symbolisch.

Aus der Februarrevolution entwickelt sich dann bekanntermaßen die noch wesentlich folgenreichere Oktoberrevolution (greg.7. November 1917), auf die ein Großteil der ideologischen und politischen Spaltung der Welt zurückgeht, auch wenn diese durch die Geschehnisse von 1989 bis 1991 zum Teil rückgängig gemacht worden ist.

Im Südkaukasus führt die erneute welthistorische Peripetie am Ende des Jahres 1917 zur Ersetzung des Ozakom durch ein neues Komitee, das den Namen „Transkaukasisches Kommissariat“ (Zakavkaskij komissariat, abgekürzt Zakavkom) erhält. Auch sind Russen, Georgier, Armenier und Aserbaidschaner gemeinsam vertreten. Das Zakavkom kann etwas mehr Einfluss gewinnen als seine Vorgängerinstitution – unter anderem erlaubt es die Bildung auf Nationalitäten beruhender Militärkorps, was die Entstehung nationaler Armeen im Südkaukasus wenig später begünstigt. Doch mit der Oktoberrevolution gerät es in einen folgenschweren Antagonismus mit den bolschewikischen Putschisten. Denn das Zakavkom betrachtete sich als legitimen Vertreter der von den Bolschewiki entmachteten Vorübergehenden Regierung und erkennt die Usurpation der Bolschewiki nicht an. Der Gegensatz zwischen der aus der Vorübergehenden Regierung hervorgegangenen Institution des Zakavkom beziehungsweise dessen Nachfolgeinstitutionen und der neuen, radikalen Macht der Bolschewiki wird zu einem der bestimmenden Faktoren in der südkaukasischen Politik bis zum Spätsommer 1918.
An der Wende von 1917 nach 1918 gibt es in Russland den Versuch, eine „Allrussische Verfassungsgebende Versammlung“ (Vserossijskoe učreditel´noe sobranie) zu errichten. Dieses Projekt wird von den bolschewikischen Machtergreifern am 19. Januar 1918 jedoch aus naheliegenden Gründen abgebrochen.

Abgeordnete aus dem Südkaukasus, die für die Allrussischen Verfassungsgebenden Versammlung bereits bestimmt worden sind, gründen daraufhin am 23. Februar in Tiflis den „Transkaukasischen Sejm” (Zakavkazskij Sejm, Zaksejm), dessen polnischer Name das Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit von der russischen Despotie zum Ausdruck bringt. Selbstredend waren die Bolschewiki über dieses neue Organ not amused. Die stärksten Fraktionen im Zaksejm ist eine von der az.Müsavat-(„Gerechtigkeits-“)Partei angeführte Koalition aserbaidschanischer Parteien (47 Sitze), gefolgt von den Menschewiken (33) und den ultranationalistischen armenischen Daschnaken (27).

Zur Komplexität der innenpolitischen Lage kommt die Schwierigkeit der außenpolitischen und militärischen Situation hinzu. Nach dem Zusammenbruch der russischen Armee in Anatolien und dem Kaukasus beenden Russland, das Osmanische Reich und Deutschland im Vertrag von Brest-Litowsk (3. März 1918) ihren Krieg. Der Zaksejm führt danach weitere Verhandlungen mit dem Osmanischen Reich auf der Friedenskonferenz von Trapezunt (14.-20. März). Kurz darauf, am 25. März, schafft der Zaksejm im Übrigen das Zavkavkom ab – kaum noch mehr als ein rein formaler und administrativer Akt.

Nach dem Umschwung des militärischen Gleichgewichts in Anatolien und dem Kaukasus zugunsten der Osmanen fordern diese den Zaksejm auf, sich von Russland formal unabhängig zu machen (12. April). In der Zwischenzeit besetzen die Osmanen nach dem Vertrag von Brest-Litowsk die ehemals russische Provinz Kars. Am 13. April nehmen sie auch die Schwarzmeerstadt Batum ein. Am 22. April entscheidet sich der Zaksejm dann dafür, dem osmanischen Vorschlag entsprechend seine Unabhängigkeit zu erklären. Dies ist der Gründungstag der „Transkaukasischen Demokratischen Föderativen Republik (TDFR, Անդրկովկասյան Դեմոկրատական Ֆեդերատիվ Հանրապետություն Andrkovkasyan Demokratakan Federativ Hanrapetut´yun, Zaqafqaziya Demokratik Federativ Respublikası, ამიერკავკასიის დემოკრატიული ფედერაციული რესპუბლიკა Amierkavkasiis Demokratiuli P´ederac´iuli Respubliki). Am 26. April erhält die TDFR ihre erste Regierung unter dem Georgier აკაკი ჩხენკელი Akaki Č´xenkeli (1874-1959).

Ungefähr zur gleichen Zeit, am 25. April, gelingt es den Bolschewiki in Baku nach einer Phase intensiver, sehr häufig gewaltsamer Auseinandersetzungen den „Bakuer Soviets der Volkskommissare“ (Bakinskij sovet narodnych komissarov) als politisches Herrschaftsorgan zu etablieren, im Verbund mit armenischen Nationalisten. Chef des Bakuer (Sovnarkom) wurde der Armenier Ստեպան Շահումյան Stepan Šahumyan (Stepan Georgievič Šaumjan, 1878-1918). Die Machtübernahme des Bakuer Volkskommissarerates ist auch dadurch möglich geworden, dass die Bolschewiki und ihre armenischen Freunde Ende März Tausende ihrer (aserbaidschanisch-muslimischen) politischen Gegner in Baku kurzerhand massakriert haben.

Angesichts der Errichtung einer bolschewikischen Mini-Diktatur in Baku und der zeitgleichen militärischen Dominanz der Osmanen im Westen Südkaukasiens werden im Mai 1918 innerhalb der muslimischen Fraktion Stimmen lauter, die die Errichtung eines muslimischen Staats in Transkaukasien befürworten. So sagt der muslimisch(-aserbaidschanische) Abgeordnete Xәlil bәy Xasmәmmәdov (1873-1943) auf einer Sitzung der muslimischen Zaksejm-Fraktion am 6. Mai:
„Alle Macht in Baku und im ganzen östlichen Transkaukasien muß den Muslimen gehören, und wenn wir diese Macht dort zeitweilig verloren haben, so nur deshalb, um sie vollständig und endgültig zurückzuerhalten.“

Neue Verhandlungen zwischen Vertretern der TDFR finden ab dem 11. Mai auf der Konferenz von Batum statt, während die osmanische Militäroffensive nach Osten fortgesetzt wird. Am 15. Mai nehmen die Truppen des Sultan-Kalifen Aleksandropol´ ein, das heute Գյումրի Gyumri heißt. Den Armeniern gelingt es nur mit knapper Not in der Schlacht von Saradabat (Սարդարապատի ճակատամարտ Sardarapati čakatamart, ttü.Serdabad Savaşı) um den 24. Mai herum, die Osmanen daran zu hindern, auch die Gegend um Eriwan einzunehmen.
Am 26. Mai dann entschließen die an der Konferenz von Batum beteiligten Vertreter Georgiens sich dazu, die Unabhängigkeit Georgiens zu proklamieren. Noch am selben Tag löst sich der Zaksejm nach einer letzten Sitzung selbst auf.

Einen Tag später bilden muslimische Ex-Zaksejm-Abgeordnete einen „Vorübergehenden Nationalrat“ (Müvәqqәti Milli Şura). Dieser wählt Mәhәmmәd Әmin Rәsulzadә (1884-1955) zu seinem Vorsitzenden, eine der Schlüsselfiguren der aserbaidschanischen Unabhängigkeitsbewegung im frühen 20. Jahrhundert. Einen Tag später, am historischen Datum des 28. Mai 1918, veröffentlicht der Nationalrat die “Urkunde über die Unabhängigkeit Aserbaidschans“ (Akt o nezavizimosti Azerbajdžana), der als formales Gründungsdokument der „Demokratischen Republik Aserbaidschan“ (Azerbajdžanskaja Demokratičeskaja Respublika, ADR) gilt, deren aserbaidschanischer Name auch Azәrbaycan Xalq Cümhuriyyәti (AXC) „Aserbaidschanische Volksrepublik“ lautet und die erste Republik mit mehrheitlich muslimischem Bevölkerungsanteil in der Weltgeschichte ist.

Übrigens erfolgt am selben 28. Mai 1918 auch die Gründung der „Demokratischen Republik Armenien“ (Դեմոկրատական Հայաստանի հանրապետություն Demokratakan Hayastani Hanrapetut´yun), die auch als „Ararat-Republik” (Արարատյան հանրապետություն Araratyan Hanrapetut´yun) bekannt ist und der erste formal unabhängige armenische Staat seit 1375 ist.

In der Geschichte gibt es keine Happyends, höchstens vielleicht happy hours. Die Gründung der aserbaidschanischen und der armenischen Republik war mittelbar der Auslöser einer Reihe fürchterlicher, von wechselseitigen Massakern und Genoziden begleiteten blutiger Konflikte, deren berüchtigtste der bis heute andauernde Berg-Karabach-Konflikt ist. Die Ausrufung der Republiken markiert den Sieg des Prinzips über die Nationalitäten- beziehungsweise Ethnizitätenbezeichnung definierter territorialstaatlicher Entitäten auch in Südkaukasien. Es wird nur wenige Wochen dauern, bis sich im aserbaidschanischen Karabach eine von armenisch-nationalistischen und bolschewikischen Ideen getragene Separatistenbewegung zu Wort meldet. Entgegen der Wahrnehmung vieler Ultranationalisten auf allen Seiten, die gerne von einer armenisch-aserbaidschanischen Erbfeindschaft sprechen möchten und auf der Suche nach Spuren für diese nicht selten bis in die Tiefen der antiken Geschichte hinabsteigen, geben weder Armenien noch Aserbaidschan noch auch die Separatisten bis mindestens August 1918 die Hoffnung auf die Möglichkeit einer friedlichen, oder wie es in der romantisch beseelten Sprache vieler damaliger Quellen heißt „brüderlichen“ Lösung der Konflikte auf.

Leider setzen diese Stimmen sich am Ende nicht durch. Vor diesem Hintergrund kann man den 28. Mai 1918 einerseits als eine große historische Errungenschaft feiern. Im Hinblick auf seine Folgen sollte man jedoch auch bedenken, dass die Errichtung nationaler Grenzen immer zugleich auch die Möglichkeit der Schaffung neuer Konflikte in sich birgt.

Zitierte Literatur

Baberowski 2003. Baberowski, Jörg: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus. Munich: DVA.

Quelle der Illustration:
Mahmudov 2004-2005. Mahmudov, Yaqub (Hg.): Azәrbaycan Xalq Cümhuriyyәti Ensiklopediyası [An encyclopedia of the People´s Republic of Azerbaijan]. 2 Bde. Baku: Lider Nәşriyyat. Bd. 1, S. 20.
© Michael Reinhard Heß 2021
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