Michael Reinhard Heß: Angriff auf die Objektivität — Bergkarabach
9. ноября 2020 0 Автор Dr. Michael Reinhard HeßDr. Michael Reinhard Heß
Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe. Thema der Habilitation waren Leben und Sprache des aserbaidschanischen Dichters İmadәddin Nәsimi (1370–1417).
Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.
In der „Berliner Zeitung“ hat Leo Ensel unter der Überschrift „Stalins Saat“ seine Sichtweise auf den Berg-Karabach-Konflikt zusammengefasst. Im Untertitel wird sie als „Armeniens Perspektive“ bezeichnet und mit dem Fazit versehen: „Berg-Karabach war nie Teil Aserbaidschans“.
Auf der methologisch-theoretischen Ebene bricht der Autor eine Lanze für die Objektivität und referiert Positionen seiner Gegner unter anderem unter der Überschrift „Pseudo-Objektivität“.
Wenn man einmal von vielen recht polemischen Teilen seines Textes absieht, bezieht sich eines der historischen Hauptargumente Ensels für „Armeniens Perspektive“ auf die späten 1980er-Jahre: „Ende der Achtzigerjahre gerieten die Dinge in Bewegung. Nach blutigen antiarmenischen Pogromen zwischen Februar und Januar 1989 in den aserbaidschanischen Städten Sumgait, Kirowabad (heute: Ganja) und in der Hauptstadt Baku, bei denen gewalttätige Mobs mehrere Hundert Armenier massakrierten, wurden die Forderungen nach einem Anschluss Karabachs an Armenien erneut lauter.“
Zu historischer Objektivität gehört, dass man ein erstes Ereignis, welches chronologisch auf ein zweites folgt, nicht als Ursache des ersten bezeichnen kann. Ensels Satz sagt aus, dass die „Dinge“ nach von Pogromen geprägten Phase „in Bewegung“ gerieten, die bis Januar 1989 dauerte. Von da an seien die Forderungen nach einem „Anschluss“ Karabachs an Armenien erneut lauter geworden.
So gut wie die gesamte wissenschaftliche und sonstige Literatur, egal ob von Armeniern oder Aserbaidschanern oder von anderen Autoren verfasst, über den Berg-Karabach-Konflikt ist sich einig, dass einer der entscheidenden Schritte auf dem Weg von der in der Sowjetzeit eher ,eingefrorenenʻ Konfliktlage zu einer Eskalation ein Beschluss des Regionalsowjets der Autonomen Region Berg-Karabach (russische Abkürzung: NKAO) vom 20. Februar 1988 war. Die Liste der hier aufzuzählenden Werke wäre fast endlos, siehe etwa Asenbauer 1993: 317, Kalpakian 1993: 112; Feigl 2008: 102, 108; Taylor 2010: 141; Oppeln/ Läzer/ Altmann 2012: 41; Babajew 2014: 34.
Dieses Datum markiert allerdings keineswegs den Beginn, der – zu einem wichtigen Teil von der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik (ArmSSR) ausgehenden – Versuche einer Revision des damaligen Status der NKAO als Bestandteil der Aserbaidschanischen SSR (AsSSR). Eine starke Zunahme der ethnischen Spannungen ist bereits zwischen Ende Februar und Anfang März 1987 dokumentiert, als eine erste Welle von Flüchtlingen aserbaidschanischer Ethnizität aus der Armenischen SSR nach Aserbaidschan anrollte (siehe İsmayılov 2020 [2015]). Am 5. März 1987 verfasste der ethnische Armenier Suren Ayvazyan (Սուրեն Այվազըան, russisch Suren Michajlovič Ajvazyan, 1933-2009), der Mitglied der armenischen KP war, ein an Gorbatschow gerichtetes Memorandum, in dem er die Vereinigung sowohl Berg-Karabachs als auch Nakhitschewans mit Armenien forderte (Asenbauer 1993: 80). Während des Sommers 1987 gab es in der ArmSSR eine öffentliche Massenkampagne, die dasselbe Ziel hatte (vgl. Feigl 2008: 107, 123). Einen Höhepunkt erreichte diese öffentliche Massenmobilisierung im August 1987. Damals wurde unter Armeniern sowohl in der Armenischen SSR als auch in Berg-Karabach eine Petition zur Angliederung Berg-Karabachs und Nakhitschewans an die ArmSSR initiiert. Nach Schätzungen Haig E. Asenbauers wurde der Text von 75.000 Personen unterzeichnet (Asenbauer 1993: 79f.), es gibt jedoch auch abweichende Zahlenangaben. In Xankәndi~Stepanakert kam es Ende 1987 zu anti-aserbaidschanischen Demonstrationen (Vәliyev/ Şirinov 2016: 81). Die Belege für eine massive politische und Publicitykampagne, die spätestens ab der Mitte des Jahres 1987 von der Armenischen SSR und dem armenischen Teil der Bevölkerung der NKAO aus im Sinne einer Revision des rechtlichen Status der Region geführt wurde, ließen sich problemlos vermehren.
Wenn Leo Ensel daher behauptet, „nach“ einer Periode, die die Jahre 1988 bis 1989 umfasst, „wurden die Forderungen nach einem Anschluss Karabachs an Armenien erneut lauter“, widerspricht er durch weitgehende Übereinstimmung der Historiker- und Expertencommunity unterstützten gesicherten historischen Fakten. Das von Ensel – und vielen anderen armenischen Apologeten der armenischen Okkupation Berg-Karabachs – als Argument benutzte Massaker von Sumqayıt fand übrigens Ende Februar 1988 statt, und zwar nach dem oben erwähnten (ohne Beteiligung der armenischen Abgeordneten erfolgten) Beschluss des Regionalsowjets der NKAO vom 20. Februar 1988. Da dieser Beschluss zweifelsohne – wie anhand der oben in Auswahl wiedergegebenen Literatur ersichtlich – bereits einen Höhepunkt in der (schon längst laufenden) armenischen Kampagne zur Revision des rechtlichen Status der NKAO darstellte, ist die Darstellung Ensels selbst dann grundfalsch, wenn man seine Äußerung dass „die Forderungen nach einem Anschluss Karabachs an Armenien erneut lauter“ wurden, nicht, wie aus seiner Formulierung hervorgehend, auf die Zeit bis 1989, sondern auf die Zeit ab dem berühmt-berüchtigten Massaker von Sumqayıt bezieht.
Ensel verletzt also das Grund-Ursache Prinzip, indem er in Wahrheit chronologisch vorausgehende Ereignisse als Folge späterer Ereignisse darstellt. Er tut dies offensichtlich in vollem Bewusstsein und mit voller Absicht. Denn seine Bemerkungen über die Bluttaten von Sumqayıt verraten, dass er über dieses Massaker gut Bescheid zu wissen angibt. Was herauskommt, ist Geschichtsfälschung.
Aber nicht nur durch diese die Grundprinzipien historischer Wissenschaft ignorierenden Verdrehung ist Ensels das Verdikt, dass Berg-Karabach niemals Teil Aserbaidschans gewesen sein soll, unglaubwürdig. Man braucht nur seine eigene Wortwahl mit der Überschrift seines Beitrags zu vergleichen, dann wird die Absurdität seiner Position sofort sichtbar. So beschreibt er die Ergebnisse des Referendums von 10. Dezember 1991 mit den Worten: „82,2 Prozent der Bewohner Karabachs [gemeint: Berg-Karabachs – M. R. H.] nahmen daran teil. 99,89 Prozent der Stimmen [gemeint: Abstimmenden – M. R. H.] votierten für die Sezession von Aserbaidschan“. Eine „Sezession“ oder Separation von Aserbaidschan konnte natürlich nur unter der Voraussetzung stattfinden, dass Berg-Karabach zu diesem Zeitpunkt (wie auch früher schon und später, wie durch UN-Sicherheitsresolutionen usw. immer wieder bestätigt worden ist) zu Aserbaidschan gehörte. An anderer Stelle beschreibt Ensel – die historischen Abläufe dabei in seinem Sinne dramatisch verkürzend – die Vorgänge, die von 1921 bis 1923 zur Errichtung der NKAO beitrugen. Fazit: „Seit 1923 bildete Berg-Karabach fast die gesamte folgende Sowjetepoche über einen [recte: eine – M. R. H.] Autonomen Oblast innerhalb der Aserbaidschanischen SSR“. Genau. Also einen Teil der AsSSR. Also einen Teil Aserbaidschans. Auch dies steht wieder in diametralem Gegensatz zu Ensels eigener absurder Behauptung, Berg-Karabach habe „nie“ zu „Aserbaidschan“ gehört. Sprechen hier zwei verschiedene Autoren, oder ist das ein Fall von historischer Schizophrenie? Festzustellen bleibt: Derselbe Autor Ensel, der so vehement und plakativ pro-armenisch in einer Unter-Überschrift die Zugehörigkeit Berg-Karabachs zu Aserbaidschan negiert, bezeichnet es selbst zugleich wieder als Teil Aserbaidschans.
Selbstwiderspruch ist nicht nur in historischer, sondern überhaupt in jeglicher Wissenschaft ein no go.
Der polemische Charakter, die Einseitigkeit und die fehlende Objektivität Ensels selber – obwohl er sich letztere mit großem Pathos auf die eigenen Fahnen schreibt – werden übrigens schon aus Wortgebilden wie „aserbaidschanisch-türkisch-djihadistische Aggression“ deutlich. Aggression? Der Begriff suggeriert, dass es sich um einen aggressiven Akt seitens Aserbaidschans handelt und nicht um einen Akt der Selbstverteidigung zur Wahrung oder Wiederherstellung der staatlichen Souveränität, wohingegen – was nicht einmal Ensel bestreitet– Berg-Karabach nach international übereinstimmender Auffassung völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Und wenn es stimmt, dass Aserbaidschan Türken oder sogar Dschihadisten auf seiner Seite kämpfen lässt, rechtfertigt dies etwa die hier per Bindestrich erfolgte (und deshalb nicht weniger unverschämte) Gleichsetzung von „Türken“, „Aserbaidschanern“ und „Dschihadisten“? Ich kenne keinen Aserbaidschaner, der auch nur die am Krieg beteiligten (geschweige denn alle) Armenier aufgrund ihrer Unterstützung aus dem Iran als „Mollafans“ oder aufgrund ihres Bündnisses mit Russland als „Putins Petrodollar-Freunde“ beschimpfen würde, was in etwa das Äquivalent zu dem rhetorischen Niveau wäre, das Leo Ensel in seiner Philippika auffährt (Aserbaidschan kennt er als „durch Petrodollars steinreich gewordenes diktatorisch regiertes Land“. Mit Verlaub: Was dort geschieht, ist ein Krieg, und jede Seite nimmt in einem solchen naturgemäß die Unterstützung, die sie bekommen kann. Ist es verboten, Verbündete zu haben? Aber pauschal und global „Aserbaidschaner“, „Türken“ und „Dschihadisten“ miteinander gleichzusetzen, ist perfide, da es letzten Endes auf eine pauschale Diskreditierung und Diskriminierung von Aserbaidschanern und Türken abzielt. Was den Vorwurf des „Dschihadismus“ betrifft: Mir ist noch kein einziger Aserbaidschaner, weder als Privatperson noch als Vertreter einer staatlichen Stelle untergenommen, der behauptet hätte, dass der Befreiungskrieg um Nagorno-Karabach in einem wesentlichen Aspekt religiös motiviert sei, geschweige denn „dschihadistisch“. Und: Fällt der aserbaidschanische Jude Albert Aqarunov, der am 8. Mai 1992 in Şuşa im Krieg gegen die armenischen Angreifer fiel und zum aserbaidschanischen Nationalhelden wurde, etwa auch unter Ensels Dreiklang „Türken=Aserbaidschaner=Dschihadisten?“ Was für eine Verhöhnung Aserbaidschans, seiner Kriegsziele und seiner multireligiösen, multiethnischen Bevölkerung! Und das vorgeblich unter der Ägide der „Objektivität“.
Angesichts der massiven grundlegenden Fehler in Leo Ensels Darstellung spare ich es mir aus Zeitgründen, die anderen, zum Teil hanebüchenen Verdrehungen, Verkürzungen und terminologischen Volten des Autoren (dessen Einseitigkeit schon an den fehlenden Anführungszeichen für die sogenannte „Republik Arzach“ erkennbar ist) hier im Detail aufzuarbeiten. Statt sich unvoreingenommen und nach anerkannten Methoden oder auch nur dem common sense mit dem Thema auseinanderzusetzen, opfert Ensel jegliche Ansprüche an eine logische, ganz zu schweigen von einer wissenschaftlichen, Herangehensweise, auf dem Altar der anti-aserbaidschanischen Polemik.
Die von Ensel behauptete angebliche Tendenz deutscher Medien, „das aserbaidschanische Narrativ“ zu bedienen und demgegenüber „die armenische Perspektive“ (durch diese Verwendung mit unterschiedlicher Wertung ausgestatteter Begriffe offenbar Ensel unverkennbar selbst seine Tendenz), kann ich persönlich überhaupt nicht nachvollziehen. Die „Berliner Zeitung“ hat trotz gegenteiliger Ankündigungen weder einen längeren Leserbrief noch einen Artikel von mir zu Berg-Karabach abdrucken wollen, und die proarmenisch voreigenommene Berichterstattung wichtiger deutscher Medien wie ARD und SPIEGEL kann man in anderen Beiträgen auf dieser Facebookseite nachlesen. Meinem Eindruck zufolge ist die Berichterstattung mittlerweile etwas ausgewogener, nachdem sie in den ersten Wochen des Konflikts ab September deutlicher proarmenisch gewesen war. Von einer Vernachlässigung der „armenischen Perspektive“ zu sprechen, halte ich für eine gewagte These.
Nur eine kleine Bemerkung noch zum Schluss, die ich mir als Deutscher und als Philologe nicht verkneifen kann. Warum greifen ausgerechnet deutschsprachige Apologeten der armenischen Sichtweise immer wieder auf Nazivokabular zurück, wenn sie diese beschreiben? Leo Ensel verwendet in Bezug auf armenische Bestrebungen der Änderung des Status Berg-Karabachs gleich zweimal die allzu bekannte Vokabel „Anschluss“. Einmal in dem bereits oben zitierten Passus über die Entwicklungen ab 1988. Und einmal in Bezug auf die frühsowjetische Phase (1921-1923), zu der er schreibt: „Mehrfache Bitten um Anschluss an die armenische Sowjetrepublik wurden von Moskau abgewiesen.“ Zum Vergleich der entscheidende Passus im NKAO-Regionalsowjet-Beschluss vom 20. Februar 1988. Darin kommt diese Nazivokabel natürlich nicht vor (das wäre in der noch existierenden Sowjetunion kaum gut angekommen), stattdessen heißt es (meine Übersetzung nach der englischen Fassung des Textes Asenbauer 1993: 317, meine Übersetzung), der Regionalsowjet
„bitte die Obersten Sowjets Aserbaidschans und Armeniens, Verständnis für die Forderung der armenischen Bevölkerung Berg-Karabachs aufzubringen und das Problem der Übertragung des Autonomen Gebiets von der Aserbaidschanischen SSR an die Armenische SSR zu lösen.“
Eine angesichts der damaligen Situation und der Erfolgschancen, welche diese Initiative sich bei der Moskauer Zentrale ausrechnete, bewusst vorsichtige Formulierung. Man „erbitte“ „Verständnis“, um ein „Problem“ zu „lösen“. Die Forderung nach Statusänderung mit dem Verb „übertragen“ umschrieben, also einem neutralen, historisch unbelasteten Terminus. Hieraus die Forderung nach einem „Anschluss“ zu machen, zeugt bei einem deutschen Beobachter – wovon? Unsensibilität? Oder von anderen, tiefer liegenden Gründen?
Zitierte Publikationen
Asenbauer 1993. Asenbauer, Haig E.: Zum Selbstbestimmungsrecht des armenischen Volkes von Berg-Karabach. Wien: Wilhelm Braumüller Universitäts-Verlagsbuchhandlung Ges. m. b. H.
Babajew 2014. Babajew, Aser: Weder Krieg noch Frieden im Sükaukasus. Hintergründe, Akteure, Entwicklungen zum Bergkarabach-Konflikt. Baden-Baden: Nomos.
Ensel 2020. Ensel, Leo: Stalin Saat. Armeniens Perspektive auf den Konflikt mit dem Nachbarn: Berg-Karabach war nie Teil Aserbaidschans. Berliner Zeitung (7./8. November 2020): 15.
Feigl 2008. Feigl, Erich: Seidenstraße durchs Feuerland. Die Geschichte Aserbaidschans. Opel, Adolph (Hg.). Wien: Amalthea.
İsmayılov 2020 [2015]. İsmayılov, Kamran: Zәngәzur bölgәsindә azәrbaycanlıların soyqırımı [Der Genozid an den Aserbaidschanern in der Region Zәngәzur]. [Ursprünglich am 03. April 2015 in der Zeitung „Azәrbaycan“ erschienener Artikel] Https://1905.az/z%C9%99ng%C9%99zur-bolg%C9%99sind%C9%99-a…/… [downgeloaded am 29. Oktober 2020].
Kalpakian 1993. Kalpakian, Bischof Vosskan: Der armenisch-aserbaidschanische Konflikt und das »Karabach«-Problem. In: Hakobian, Hravard et al.: Armenisches Berg-Karabach/ Arzach im Überlebenskampf. Christliche Kunst – Kultur – Geschichte. Richter, Manfred (Hg.). Berlin: Edition Hentrich. 111-113.
Oppeln/ Läzer/ Altmann 2012. Oppeln, Philine von/ Läzer, Gerald/ Altmann, Gila: Aserbaidschan. 2., überarb. Aufl. Berlin: Trescher.
Taylor 2010. Taylor, Scott: Unreconciled differences. Turkey, Armenia and Azerbaijan. Ottawa: Esprit de Corps Books.
Vәliyev/ Şirinov 2016. Vәliyev, Şahin/ Şirinov, Raqif: Qarabağ tarixi. Ümumtәhsil mәktәblәrinin 8-ci sinfi üçün fakültativ kursun tәdris vәsaiti [Geschichte Karabachs. Unterrichtshilfsmittel für den fakultativen Kurs für die 8. Klasse allgemeinbildender Schulen]. Baku: Azәri.
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