Xarı-bülbül: Die Symbolblume Schuschas und Karabachs
29. сентября 2021 0 Автор Dr. Michael Reinhard HeßDr. Michael Reinhard Heß
Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe. Thema der Habilitation waren Leben und Sprache des aserbaidschanischen Dichters İmadәddin Nәsimi (1370–1417).
Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.
In einem großen Teil der Legenden und Überlieferungen über Schuscha spielt eine Orchideenart, die Kaukasus-Ragwurz (lateinisch: Ophrys caucasica, aserbaidschanisch: Xarı-bülbül, auch unter dem Namen Qafqaz qaş sәhlәbi bekannt), eine wichtige Rolle. Die Kaukasus-Ragwurz ist die Symbolblume Schuschas und Karabachs schlechthin. Sie soll in der Umgebung Schuschas besonders im Topxana-Wald (Topxana meşәsi), der berühmten Cıdır-Ebene (Cıdır düzü) und dem Üçmıx-Gipfel (Üçmıx zirvәsi) und dort besonders gern an Berghängen und Bachläufen wachsen, mit einer hauptsächlich im Mai und Juni liegenden Blüteperiode. In manchen Darstellungen, darunter auch viele legendarische Texte, wird sogar behauptet, dass die Spezies nur in Schuscha oder Karabach gedeihe.
Der wundervoll poetische Pflanzenname Xarı-bülbül (auch in Varianten geschrieben wie Xarıbülbül) verweist auf eines der beliebtesten Motive der klassischen Literatur. Wörtlich bedeutet er „Dorn der Nachtigall“ oder „Dorn und Nachtigall“. „Dorn“ und „Nachtigall“ sind in der literarischen Klassik der islamischen Welt, die zum Kulturerbe Aserbaidschans gehört, untrennbar mit der Rose verbunden. Alles zusammen ist in dem Topos „Rose und Nachtigall“ – klanglich am eingängigsten wohl in seiner türkeitürkischen Form Gül ü bülbül – verewigt. Das Motiv ist wohl auch deshalb so beliebt geworden, weil es in wunderbarer Verdichtung die Tragik und die Sehnsucht des menschlichen Daseins zugleich zu thematisieren imstande ist.
Eine der ätiologischen Versionen der Legenden um die Kaukasus-Ragwurz beginnt mit einer idyllischen Szene, in der alle Blumen auf wundersame Weise mit der Gabe der Sprache ausgestattet sind. Dabei darf selbstredend die Rose nicht fehlen. Sie und die ebenso unvermeidliche Nachtigall lieben einander in trautem Glück. Alle anderen Blumen spenden dem harmonischen Liebespaar Beifall und tanzen und singen aus Begeisterung mit, wenn die Nachtigall der Rose ihre Liebeslieder vorträgt. Doch der Dorn wäre nicht der Dorn, wenn erbärmliche Missgunst und Neid ihn nicht dazu brächten, diesen paradiesischen Zustand sabotieren zu wollen. Die Methode, mit der er versucht, das Glück von Rose und Nachtigall zu vernichten, besteht darin, dass er sich zwischen sie schiebt. Dazu macht er der Rose gegenüber eine schwülstige Liebeserklärung. Obwohl er dafür einen Korb bekommt, gibt er nicht auf. Vielmehr klettert langsam den Rosenstängel hinauf – hier wird eines der ätiologischen Momente erkennbar: die Erzählung hält hier eine Erklärung für die an den Stängel von Rosen bis nach oben verteilten kleinen Stachel bereit. In seiner Gier und Impertinenz schreckt der Dorn schließlich sogar nicht davor zurück, eines der Blütenblätter der Rose kurzerhand aufzufressen. Die Rose ist schockiert, und ihr fällt nichts anderes mehr ein, als in lautes Wehgeschrei auszubrechen. Die Nachtigall und die anderen Blumen stimmen in ihre schmerzliche Klage ein. Aber selbst das gemeinsame Protestieren aller Blumen kann das steinerne Herz des Dorns nicht erweichen, ihn nicht von seinem Tun abbringen.
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