Das Wort nasīm („Morgenwind“) in der zweiten Zeile des Vierzeilers (robāʿī) ist zugleich Bestandteil von Nәsimis poetischer Signatur. Nәsimi (neupersisch: Nasīmī) ist unter diesem Aspekt der Etymologie seines Dichternamens (es gibt noch andere) der „Morgenwindartige“. Daher kann die Klage, die so kalt wieder frühmorgendliche Windhauch erklingt, dem Dichter selbst zugeschrieben worden.
Das Wehe erklingt, bevor die Sonne den Tag erwärmt. Sie erscheint nach den erschütternden beiden Eingangsversen erst in der dritten, reimfreien und dadurch aus den umgebenden Verszeilen herausfallenden, Zeile. Auch sie kann leicht auf Nәsimi selbst bezogen werden. „Kühner als alle“ zu sein, das war wahrlich der Anspruch dieses vielleicht am radikalsten denkenden aller klassischen Dichter des iranisch-turksprachigen Kulturraums. Nәsimi stellte sich in seinen Gedichten ohne Anflug von Bescheidenheit mühelos eine Stufe höher als Halladsch, die damals wohl stärkste Symbolfigur der Dichter, Märtyrer und Liebenden im islamischen Bereich (siehe Heß 2011). Die Zahl seiner Verse, in denen das Prädikat in der ersten Person erscheint, ist eindrucksvoll. Aber damit nicht genug: Den verfeinerten, aus sich selbst herausgeführten (im Wortsinne der E-dukation) Menschen sogar mit Allah selbst gleichzusetzen, war für ihn und seine Glaubensgenossen auch kein Tabu.
Man versteht, warum moderne Neuinterpretationen in Nәsimi oft einen „Revolutionär“ haben sehen wollen. Worum es eigentlich in vielen seiner Gedichte geht, ist eine alle Beschränkungen herausfordernde Neubewertung der Stellung des Menschen zu Gott und der Welt und vor allem: zu sich selbst. Vielleicht ist es dieses Bewusstsein einer neuen Perspektive, die in keiner der bis daher unterschiedenen „beiden Welten“ (Diesseits und Jenseits) vorhanden sei, die Nәsimi in seiner vielleicht am häufigsten zitierten Verszeile sagen lässt, dass er zu groß für diese Welt sei.
Kein Wunder, dass eine emotionale, geistige, dichterische und musikalische Sonne wie Nәsimi zahlreiche Feinde hatte. Einige von ihnen schafften es den Überlieferungen zufolge schließlich, ihn in Aleppo festzusetzen. Man kann sich gut vorstellen, dass Nәsimi den hier vorgestellten Vierzeiler in irgendeinem Kerker dichtete, in den ihn buchstabengläubige, engstirnig-fanatische, machtbesessene, korrupte, verlogene und vor ihrer eigenen Menschlichkeit davonlaufender Scheinreligiöse geworfen hatten, wie wir sie heute aus Afghanistan, von Daesch oder irgendeiner anderen Barbarensekte kennen, bevor sie ihn hinrichteten. In gewisser Hinsicht bestätigten Nәsimis Feinde und Hasser ihn aber im Nachhinein, genauer gesagt, sie bestätigten die Einzigartigkeit seiner Position. Denn während die Primitivität, Gier und Gewaltbereitschaft der im Namen einer Buchstabenwahrheit das Henkersbeil Schwingenden von der Antike bis heute niemals geändert hat, gab es und gibt es nur einen einzigen, einzigartigen Nәsimi.
In der Sowjetzeit, die Nәsimi neben Nizami aus Gәncә und anderen zu einer nationalen Symbolfigur Aserbaidschans und der Sowjetunion erhob, wurde der unsterbliche Dichter, dessen Heimat viele in Şamaxı lokalisieren, mit den Kriterien des sowjetischen Heldenkanons ausstaffiert, auch filmisch. Nәsimi wurde auf diese Weise ein Volksheld, der der Tyrannei tapfer die Stirn bietet und den Unmenschen selbst noch in dem Augenblick, da sie ihn zu Tode foltern, voller Spott die Stirn bietet. Tatsächlich greift die sowjetische Heroisierung Nәsimis damit auf wahrscheinlich zum Teil legendarische (zur Problematik siehe Heß 2016, Heß 2017) Überlieferungen zurück, die wahrscheinlich bis ins 15. Jahrhundert und damit nahe an Nәsimis Lebenszeit zurückreichen.
Einer derartigen, vom Spätmittelalter über die Sowjetzeit bis in die Gegenwart hinein fortwirkenden Überhöhung Nәsimis zur (je nach politischem oder sonstigem Interesse mit weiteren Attributen ausgestatteten) Heldenfigur, die sich motivisch letzten Endes unter anderem mit Motiven aus frühchristlichen Märtyrernarrationen verbinden lässt (zur gesamten Thematik vgl. Heß 2021), stehen jedoch andere Textzeugnisse entgegen. In ihnen ist von einem weniger auf einen heroischen Abgang erpichten Ende Nәsimis die Rede.
Wie ich in meinem letzten Buch über Nәsimi (Heß 2019) unter vollständiger Zitierung und Übersetzung der entsprechenden Passagen des arabischen Originaltextes dargelegt habe, gibt beispielsweise der arabische Historiker Sibṭ b. al-ʿAǧamī (gest. 884 H/ 1479-1480) in seiner ausführlichen Geschichte Aleppos eine andere Version der Geschehnisse wieder. Nach Sibṭ b. al-ʿAǧamī soll Nәsimi als Antwort auf die Vorwürfe der Häresie, die das Scharia-Gericht ihm machte, diese bestritten und nur die beiden Grunddogmata des Mainstream-Islams (Es gibt keinen Gott außer Allah, Mohammed ist sein Prophet) geäußert haben. Letzteres kann man so verstehen, dass er keinesfalls die Absicht hatte, zum Märtyrer zu werden und sich von den Fanatikern zum Tode verurteilen zu lassen, sondern dass er versuchte, seine Haut zu retten, indem er die von ihnen diktierten Glaubenssätze aufsagte.
Mich persönlich berührt diese Überlieferung – ob sie tatsächlich das historische Geschehen widerspiegelt, ist eine andere Frage, die ich in dem genannten Buch aus dem Jahr 2019 auch diskutiert habe – und das Bild von der verblassenden (im neupersischen Original „gelb(er) werdenden“) Sonne aus dem Vierzeiler weit stärker als die pathetischen und stereotypen Heldenmythen, die man um Nәsimi gewoben hat. Was hätte es für ihn für einen Sinn machen sollen, dass er vor dem legalistischen Gericht in Aleppo den Geistesbrüdern der spanischen Inquisitoren, der stalinistischen Säuberer und der talibanesken Fanatiker von heute auch noch zuarbeitete, indem er den Märtyrer spielte? Seine von Sibṭ b. al-ʿAǧamī überlieferte Haltung kann man aus meiner Sicht so verstehen, dass er sich der Sinnlosigkeit, mit Fanatikern zu diskutieren oder ihnen subtile Perspektiven auf das Sein zu eröffnen, ebenso bewusst war wie der Kostbarkeit seines eigenen menschlichen Daseins, zumal es das Dasein eines mit Sicherheit zu den größten Dichtern Aserbaidschans, wenn nicht des Orients gehörenden Menschen war. Er musste wissen, dass er gegen die Gewalt der Religionsrechtsfanatiker ebenso machtlos war wie diese gegen den humanistischen, auf Wandlung, Denken und Fühlen gerichteten Impetus seines Schaffens. Vor die Kadis von Aleppo gezerrt war Nәsimi klug genug zu wissen, dass es sinnlos war, eine kostbare Perle der Schöpfung, wie er selbst sie war, vor die fanatisierten Säue zu werfen, falls sich dies irgendwie vermeiden ließ.
In dem Vierzeiler beschreibt Nәsimi – in einer Dichte, Schönheit und emotionalen Intensität, die ihm so leicht niemand nachmachen wird –, wie aus der „kühnen“ (pordel) Sonne, deren Licht alles über- und durchstrahlt ein im Abendlicht blasser, also weniger hell strahlender Himmelskörper wird. Nәsimi verheimlicht überhaupt nicht die Zerbrechlichkeit seines, unseres irdischen Daseins. Seine menschliche, philosophische, religiöse, essenzielle Pointe besteht nicht in der Postulierung eines Triumphs der Unterdrückten über die Unterdrücker im Augenblick der Unterdrückung (wie es viele mittelalterliche Märtyrer-Legenden und der sowjetische Film etwa wollen), sondern im einander Gegenüberstellen der alles durchdringenden Macht und Kraft von Nәsimis dichterischen Worten und seinem Wollen auf der einen Seite und seiner menschlichen Fragilität, Schwäche und Endlichkeit auf der anderen Seite.
Diese Pointe – die „kühne Sonne“ ist im geblichen Versinken begriffen – mindert um gar nichts die Größe Nәsimis, ja sie steigert die Kraft seiner Persönlichkeit noch enorm. Sie macht, dass man Nәsimi nicht als im Sinne der Tradition geprägten Titan des Märtyrertums oder als quasi übermenschlichen Held verehren muss, um von der Unsterblichkeit seines Denkens, Fühlens und Liebens gepackt zu werden.
Bei meinem letzten Besuch in Aserbaidschan wurde immer wieder von Nәsimi gesprochen. Es tauchte die Frage auf, was ihn eigentlich so „groß“ (böyük) mache. Die Antwort ist für mich klar: Ein Dichter, der mit vier Zeilen so viel ausdrücken kann – und dabei sind hier nur ein paar Punkte angerissen worden – kann nicht anders bezeichnet werden. Erst recht nicht, wenn er seine Ausdrucksstärke auch sechshundert Jahre nach seinem Tod in einer von der seinigen sprachlich, kulturell und religiös unendlich weit entfernten Zeit entfaltet.
Yadollāh Ǧalālī Pandarī o. J. Zendegī vo ašʿār-e ʿEmādoddīn Nasīmī. Šāmel: Taḥḳīḳ dar-aḥvāl o āsār-e Nasīmī – pežūhešī dar-andīše-hā-ye ḥorūfīye. Be-hemrāh: Matn-e taṣḥīḥ-šode-ye ašʾār bar-asās-e yek nosḫe-ye nou-yāfte-ye kohan o hat nosḫe-ye ḫaṭṭī-ye digar. [Leben und Gedichte ʿEmādoddīn Nasīmīs. Darin: Eine Untersuchung zu den Lebensumständen und Werken Nasīmīs und eine Abhandlung über das hurufische Denken. Enthält außerdem einen kritischen Text der Gedichte auf der Grundlage einer neu gefundenen alten Handschrift sowie weiterer acht Handschriften] Teheran: Našrani. Seite 358f.
Sonstige zitierte Literatur
Heß 2011. Heß, Michael Reinhard: Zugänge zum Werk Nesimis. In: Aghayev, Mardan/ Suleymanova, Ruslana (Hgg.): Jahrbuch Aserbaidschanforschung: Beiträge aus Politik, Wirtschaft, Geschichte und Literatur. Bd. 4. Bochum 2011. 155-194.
Heß 2016. Heß, Michael Reinhard: Martyrdom in ʿİmādeddīn Nesīmī´s Turkic Divan: A Literary Analysis – Part I. Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 106 (2016): 61-90.
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Heß 2017. Heß, Michael Reinhard Martyrdom in ʿİmādeddīn Nesīmī´s Turkic Divan: A Literary Analysis – Part II. Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 107 (2017): 59-76.
Heß 2019. Heß, Michael Reinhard: “Two worlds can fit into me, I can not fit into this world”. Azerbaijan´s immortal poet İmadәddin Nәsimi. Berlin: Gulandot.
Heß 2021. Heß, Michael Reinhard: Profitable Dying: Turkic Interpretations of Martyrdom. Düren: Shaker.
© Text und Foto Michael Reinhard Heß 2021