Molla PΣ™nah Vaqif: Eine SchlΓΌsselfigur der aserbaidschanischen Geschichte

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Dr. Michael Reinhard Heß

Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe. Thema der Habilitation waren Leben und Sprache des aserbaidschanischen Dichters Δ°madΣ™ddin NΣ™simi (1370–1417).

Zum Thema Karabach hat er die BΓΌcher β€žPanzer im Paradiesβ€œ (Dr. KΓΆster 2016) und β€žKarabakh from the 13th century to 1920β€œ (Gulandot, 2020) verfasst.

Es mag seltsam wirken, eine WΓΌrdigung des Gelehrten, Poeten, PΓ€dagogen und Staatsmannes Molla PΣ™nah Vaqif (1717-1797)  ausgerechnet mit dem Restaurator der aserbaidschanischen UnabhΓ€ngigkeit HeydΣ™r Әlirza oğlu Әliyev (1923-2003) zu beginnen. Aber nur so kann man die immense Bedeutung, welche das Erbe Molla PΣ™nah Vaqifs im kollektiven GedΓ€chtnis Aserbaidschans jenseits seiner Bedeutung als historische und literarische Figur bis heute hat, vollkommen verstehen. Alles hat damit zu tun, dass Molla PΣ™nah Vaqif eine der zentralen PersΓΆnlichkeiten im Khanat Karabach (1747 oder 1748 bis 1822) und dessen Hauptstadt Schuscha war.

HeydΣ™r Әliyev war 1969 bis zu seinem Tod, also – mit einer kurzen Unterbrechung – ΓΌber den Systemwechsel von 1991 hinweg, ohne jeden Zweifel die politisch dominierende und prΓ€gende Figur Aserbaidschans. Auch wenn es in der SowjetΓ€ra – im Unterschied zu der blutigen Periode davor – in der UdSSR keine grâßeren GewaltausbrΓΌche zwischen Aserbaidschanern und Armeniern gab, schwelte der in den Jahren 1905 bis 1906 zum ersten Mal explodierte und dann nie wieder erloschene Konflikt zwischen beiden Volksgruppen auch unter sowjetischer Herrschaft weiter. Unter den Bedingungen der Sowjetdiktatur wurde er nur mit ganz anderen Mitteln, aber keineswegs weniger unerbittlich, ausgetragen. Einer der Ebenen der Auseinandersetzung war (und ist bis heute) der Kampf um das kulturelle Erbe Karabachs. Armenische Intellektuelle fabrizierten eine Geschichte des Gebiets, die in der klassischen Antike begann und in der der Beitrag der Aserbaidschaner kaum eine oder allenfalls nur eine negative Rolle spielte. Das Ziel vieler solcher Geschichtsklitterungen war, Karabach mit der Armenischen Sowjetischen Sozialistischen Republik zu vereinen oder zum Teil eines Großarmeniens zu machen.

Die Ernsthaftigkeit und die Systematik, mit der diese armenischen Bestrebungen nach dem Zweiten Weltkrieg betrieben wurden, konnten HeydΣ™r Әliyev, der zeitweise auch Chef des aserbaidschanischen KGB war, natΓΌrlich nicht entgehen. Ein Teil seiner Antwort waren Initiativen zur Wiederherstellung und Bewahrung des kulturellen, unter anderem architektonischen Erbes Schuschas und Karabachs, die in den 1970er Jahren begannen.

 
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SelbstverstΓ€ndlich richtete HeydΣ™r Әliyev sein Augenmerk dabei auch auf den als einer der grâßten SΓΆhne Schuschas berΓΌhmten Molla PΣ™nah Vaqif. In den Jahren 1980 und 1981 wurde fΓΌr diesen in Schuscha ein eindrucksvolles Grabdenkmal erbaut (siehe die Illustration), das HeydΣ™r Әliyev in Person am 14. Januar 1982 in einer feierlichen Zeremonie erΓΆffnete. Bei dieser Gelegenheit besuchte Әliyev besuchte auch die β€žVaqif-Tage der Dichtkunstβ€œ (Vaqif poeziya gΓΌnlΣ™ri) und erΓΆffnete das β€žHaus der Dichtkunstβ€œ (Poeziya evi). Der Hintergedanke HeydΣ™r Әliyevs bei der so manifesten WΓΌrdigung des Dichters und Staatsmannes war augenscheinlich, einen unΓΌbersehbaren Beweis dafΓΌr auszustellen, dass es schon gut 200 Jahre zuvor eine hochstehende aserbaidschanische Kultur und politische PrΓ€senz auf dem Gebiet Schuschas und Karabachs gegeben hatte. Keine Figur eignet sich besser, um beide Aspekte zugleich zu illustrieren, als eben Molla PΣ™nah Vaqif. Um zu verstehen, warum eine solche demonstrative WΓΌrdigung notwendig war, muss man sich vergegenwΓ€rtigen, dass in vielen proarmenischen pseudo-historischen Darstellungen aus der sowjetischen und postsowjetischen Zeit nicht nur die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften der Aserbaidschaner in der Zeit des Khanats geleugnet werden, sondern nicht selten auch dessen reine Existenz. Sachlichkeit ist bekanntlich in sowjetischen noch in postsowjetischen Werken zu historischen Themen alles andere als eine SelbstverstΓ€ndlichkeit.

Genau 39 Jahre nach dem erwΓ€hnten Besuch HeydΣ™r Әliyevs in Schuscha (es sollte noch ein weiterer folgen), am 14. Januar 2021, kam sein Sohn Δ°lham, das jetzige Staatoberhaupt Aserbaidschans in die nach knapp dreißig Jahren von armenischer Besetzung befreite Stadt. Δ°lham Әliyev sprach sich dabei unter anderem fΓΌr die WiedereinfΓΌhrung der β€žVaqif-Tage der Dichtkunstβ€œ aus. Das wΓ€hrend der Zeit der armenischen Okkupation verfallene Vaqif-Denkmal soll in KΓΌrze wiederhergerichtet werden.

Quelle der Illustration: https://de.wikipedia.org/wiki/Vaqif-Mausoleum...
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Wer aber war dieser Molla PΣ™nah Vaqif, der es fast zwei Jahrhunderte nach seinem Tod noch schaffte, unter anderem durch ein prachtvolles Mausoleum geehrt zu werden?

Schon allein deshalb, weil Molla PΣ™nah Vaqif als Staatsmann mindestens ebenso bedeutend war wie als Dichter, ist es unmΓΆglich, ihn in einem kurzen Artikel auch nur annΓ€hernd angemessen zu wΓΌrdigen. Stattdessen seien ein paar grundlegende Aspekte kurz beleuchtet.

Als Geburtsort Molla PΣ™nah Vaqifs gilt ein in Qazax (im Norden der Republik Aserbaidschan, nahe der georgischen Grenze) gelegenes Dorf namens SalahlΔ± oder QΔ±raqsalahlΔ±. Nachdem Molla PΣ™nah Vaqif in seiner Heimatregion eine Weile als Lehrer (Molla, daher sein Beiname) gearbeitet hatte, verschlug es ihn und seine Familie infolge politischer Unruhen um 1759 in das weiter sΓΌdlich gelegene Karabach.

Die ersten Jahrzehnte im Leben des frΓΌh durch seine Intelligenz und seinen Bildungseifer auffallenden Vaqif waren kein Zuckerschlecken. Das gilt auch fΓΌr die Periode nach seiner Ankunft in Schuscha, die ungefΓ€hr 1770 oder 1771 stattfand. Die folgenden Verse aus einem von Molla PΣ™nah Vaqif gedichteten qoşma (eine wichtige Form der aserbaidschanischen silbenzΓ€hlenden Dichtung) hat man auf diese entbehrungsreiche Periode bezogen:
Allaha bizmişik naşükΓΌr bΣ™ndΣ™
Bir sΓΆz desΣ™m, dΣ™xi qoymazlar kΣ™ndΣ™
Xalq batΔ±bdΔ±r noğla, ΕŸΣ™kΣ™rΣ™, qΣ™ndΣ™,
Bizim evdΣ™ axta zoΔ‘al da yoxdur.
β€žAllah! Wir sind Wesen, die dankend dich preisen!
Doch sprech ich ein Wort, vom Dorf sie mich weisen!
Das Volk hat noğul, viel Zucker zum Speisen,
Wo Kornelkirschen, selbst rohe, uns fehlen.β€œ
Hierzu muss man wissen, dass das aserbaidschanische Wort noğul β€žeine Art kleine runder Süßigkeit mit aufgerauter OberflΓ€che, die mit Koriandersamen gefΓΌllt istβ€œ (iΓ§Σ™risinΣ™ keşniş tumu qoyulmuş xΔ±rda, ΓΌstΓΌ kΣ™lΣ™-kΓΆtΓΌr, yumru şirin nΓΆvΓΌ) bezeichnet.
Auch in Schuscha arbeitete Vaqif als Lehrer, er gilt sogar als BegrΓΌnder der ersten Schule der Stadt. Dort nahm sein Leben dann aber auch eine ΓΌberaus glΓΌckliche Wendung. Der damalige Herrscher des Khanats von Karabach, Δ°brahimxΣ™lil, der von 1763 bis zu seiner Ermordung durch die Russen im Jahr 1806 regierte, wurde auf ihn aufmerksam. Er machte Vaqif zu seinem Berater, Kanzleichef und Wesir, was das wichtigste Amt nach dem Khansposten selber war. Vaqifs Kenntnisse und FΓ€higkeiten beeindruckten rasch nicht nur den Schuschaer Hof, sondern auch das Ausland. Katharina die Große, Kaiserin von Russland (1729-1796, regierte von 1762 bis zu ihrem Tod), bemerkte einmal, dass die offiziellen Schreiben des Khanats von Karabach eleganter und schΓΆner seien als selbst die aus dem Iran und aus dem Osmanischen Reich kommenden. Als wichtigster Autor dieser Schreiben kann Vaqif gelten.

An dieser Stelle kânnten mühelos mindestens noch zwei dicke Bücher eingefügt werden, eins, das die Bedeutung Vaqifs als Staatsmann erkundet, und eins, dass sich seinem eindrucksvollen und bis heute nachwirkenden literarischen Erbe widmet. Tragischerweise wurde der Diwan (Sammlung in klassischem Stil geschriebener Gedichte) Vaqifs nach seinem Tod vernichtet, aber zahlreiche seiner Gedichte sind dennoch erhalten geblieben. Vor allem seine qoşmas haben den Stil nachfolgender Dichter- und Dichterinnengenerationen geprÀgt.
Da solche langen AusfΓΌhrungen hier nicht mΓΆglich sind, sei alternativ kurz auf das tragische Ende von Molla PΣ™nah Vaqifs Leben eingegangen, das allein ohne jegliche weitere literarische AusschmΓΌckung Stoff fΓΌr mindestens einen packenden historischen Roman oder einen Kriminalroman liefert.

Molla PΣ™nah Vaqifs politische Karriere erreichte in den letzten beiden Jahren vor seinem Tod ihren HΓΆhepunkt. Damals griff der BegrΓΌnder der ursprΓΌnglich turksprachigen Kadscharendynastie (die bis 1925 ΓΌber den Iran herrschte), AΔ‘a MoαΈ₯ammad αΈͺān (1741-1797), Karabach an. WΓ€hrend seiner 33 Tage dauernden Belagerung Schuschas organisierte Molla PΣ™nah Vaqif nicht nur die Verteidigung, sondern kΓ€mpfte auch mit der eigenen Waffe in der Hand gegen die Angreifer.
WΓ€hrend der hochdramatischen Angriffe auf Schuscha soll Molla PΣ™nah Vaqif einer Legende zufolge sogar sein dichterisches Genie eingebracht haben. Der Überlieferung zufolge schossen die Kadscharen einen an einem Pfeil befestigten Spottvers aus der Feder von AΔ‘a MoαΈ₯ammad αΈͺāns Hofdichter in die belagerte Stadt hinein, um die Umzingelten zu demoralisieren. Der Vers lautete in etwa β€žDu Tor! Vom Himmel es hagelt die Steine/ Von Mauern aus Glas dir Wunder hoff keine!β€œ Der rhetorische Effekt des Verses basierte zum Teil auf einem Wortspiel aus dem neupersischen Wort fΓΌr β€žGlasβ€œ (Ε‘Δ«Ε‘a) und dem Γ€hnlich klingenden Namen Schuschas. Molla PΣ™nah Vaqif soll auf die Provokation reagiert haben, indem er prompt einen Antwortvers dichtete. Diesen habe er, ebenfalls per Pfeil, zurΓΌckschießen lassen. Der Wortlaut war in etwa: β€žDer SchΓΆpfer mit Glas mich hat umschlossen/ Doch mit festen Fels das Glas umgossen.β€œ

Bekanntermaßen wurde AΔ‘a MoαΈ₯ammad αΈͺān am 17. Juni 1797 im von ihm endlich eingenommenen Schuscha unter bis heute nicht ganz geklΓ€rten UmstΓ€nden ermordet (Stoff fΓΌr einen weiteren Historienschinken-cum-Krimi). WΓ€hrend der Besetzung Schuschas durch die Kadscharen war Molla PΣ™nah Vaqif von diesen ins GefΓ€ngnis gesteckt worden. Unmittelbar nach der Ermordung AΔ‘a MoαΈ₯ammad αΈͺāns – in die Molla PΣ™nah Vaqif wahrscheinlich auf die eine oder andere Weise verwickelt war – kam der Wesir dann aus dem GefΓ€ngnis frei, in das ihn der Kadscharenschah hatte werfen lassen. Doch dann ließ (nach einer verbreiteten Darstellung) ein gewisser MΣ™hΣ™mmΣ™d bΣ™y, ein Neffe des Khans Δ°brahimxΣ™lil, der die Abwesenheit seines Onkels aus Schuscha ausgenutzt hatte, um sich selbst zum Herrscher Karabachs von AΔ‘a MoαΈ₯ammad αΈͺāns Gnaden aufzuwerfen, Molla PΣ™nah Vaqif ebenfalls ermorden, und zwar zusammen mit dessen Sohn Әli bΣ™y. Vater und Sohn wurden zur Exekution auf das CΔ±dΔ±r dΓΌzΓΌ (CΔ±dΔ±r-Ebene) die berΓΌhmte Ebene sΓΌdlich der Stadt Schuscha, gefΓΌhrt, wo Molla PΣ™nah Vaqif dann auch beigesetzt wurde.

MΣ™hΣ™mmΣ™d bΣ™ys verwandtschaftliche und politische Position lΓ€sst auf den ersten Blick vermuten, dass die Ermordung des ehemaligen Wesirs ein politisches Motiv gehabt haben kΓΆnnte. Eventuell wollte der MΓΆrder einen Gegenspieler im Kampf um die Macht aus dem Weg rΓ€umen oder verhindern, dass Molla PΣ™nah Vaqif unliebsamen Nachforschungen ΓΌber MΣ™hΣ™mmΣ™d bΣ™ys Kollaboration mit dem Schah von Persien nachging. Anderseits ist in der Literatur noch ein ganz anderes Motiv ins Spiel gebracht worden. Und zwar wird vermutet, dass MΣ™hΣ™mmΣ™d bΣ™y die zweite Frau Molla PΣ™nah Vaqifs, QΔ±zxanΔ±m, die fΓΌr ihre außerordentliche SchΓΆnheit bekannt war, fΓΌr sich begehrte. FΓΌr diese Hypothese kΓΆnnte sprechen, dass MΣ™hΣ™mmΣ™d bΣ™y sich QΔ±zxanΔ±m nach Molla PΣ™nah Vaqifs Tod auch tatsΓ€chlich zur Frau nahm. An dieser Ehe konnte sich der kurzzeitige Statthalter AΔ‘a MoαΈ₯ammad αΈͺāns jedoch nicht lange erfreuen, denn kurze Zeit spΓ€ter wurde er selber ebenfalls hingerichtet.

Der tragische Tod des großen Wesirs, Gelehrten, PΓ€dagogen und Dichters Molla PΣ™nah Vaqif bleibt so oder so bis heute von einem Schleier des MysteriΓΆsen umweht.

Man kann leicht verstehen, warum die sichtbare PrΓ€senz Molla PΣ™nah Vaqifs in Schuscha und die Bekanntmachung dieser großen PersΓΆnlichkeit in der Welt fΓΌr Aserbaischaner aller Zeiten und Orte seit dem 18. Jahrhundert eine so große Bedeutung hat: Allein diese eine Person ist die greifbare Widerlegung aller GeschichtsverstΓΌmmelungen, die die aserbaidschanische kulturelle und politische PrΓ€senz in Karabach im 18. Jahrhundert leugnen wollen.
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