Unruhen in Kasachstan

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Dr. Michael Reinhard Heß

Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe. Thema der Habilitation waren Leben und Sprache des aserbaidschanischen Dichters İmadәddin Nәsimi (1370–1417).

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Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.

In Almaty und anderen Städten Kasachstans finden derzeit Unruhen statt. In Almaty wurde das Gebäude der Bezirksverwaltung (Aqimat) angezündet.

 

Was beziehungsweise wer genau hinter den Unruhen steckt, wird man vielleicht in den nächsten Tagen oder Monaten oder Jahren erfahren, vielleicht aber auch nicht (wie öfter in vergleichbaren Situationen). Falls sich die Situation zuspitzt, ist damit zu rechnen, dass Kasachstan in der einen oder anderen Form ein „Hilfsangebot“ aus Moskau erhalten wird, wie es unter ähnlichen Umständen in der sowjetischen und postsowjetischen Geschichte schon vorgekommen ist.

Kasachstan steht wie alle unabhängig gewordenen ehemaligen Sowjetrepubliken prinzipiell vor dem Dilemma, dass man trotz der formalen Unabhängigkeit in mehr oder weniger starken politischen, wirtschaftlichen und auch kulturellen Abhängigkeitsbeziehungen zum übermächtigen Nachbarn steht.

Kasachstan hat in den letzten Jahren durch Maßnahmen zur Festigung seiner eigenen nationalen kulturellen Identität (Alphabetreform, deutliche Stärkung der kasachischen Sprache gegenüber der russischen im öffentlichen Leben, Artikulation einer nicht auf russozentrischen Denkmodellen basierenden nationalen Identität, Förderung der autochthonen Kultur usw.) wohl nicht nur das Wohlgefallen Putins erregt. Insbesondere durch die Wahl eines lateinischen, also dem westlichen statt dem russischen Kulturkreis zugewandten, Alphabets, hat Kasachstan, ähnlich wie zuvor Aserbaidschan, signalisiert, dass es mittel- und langfristig der globalisierten Welt gegenüber aufgeschlossen sein und keineswegs nur in der Einflusssphäre Russlands verbleiben möchte.

 

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Dass Russland eine Krise im Nachbarland Kasachstan auf die eine oder andere Weise ausnutzen könnte, dürfte wohl nicht nur eine theoretische Option sein, zumal nach dem vom Westen selbst verschuldeten Afghanistan-Desaster die Möglichkeiten westlicher Einflussnahme in der Region und Unterstützung für Kasachstan begrenzt sein dürften.

Wie in allen autoritär regierten postsowjetischen Staaten gibt es auch in Kasachstan seit der Unabhängigkeit (16. Dezember 1991) tiefgreifende soziale, wirtschaftliche und kulturelle Gegensätze. Die wirtschaftliche Situation des Großteils der Bevölkerung ist, freundlich gesagt, bescheiden, und die staatlich verordnete Ideologie muss sich gegen konkurrierende Entwürfe, etwa islamischer Prägung behaupten.

 

Ein Grunddilemma jeglicher autoritärer Herrschaftsform besteht wohl darin, dass sie qua ihrer Autorität den Willen des sogenannten Volks nur begrenzt berücksichtigen muss beziehungsweise will. Autoritäre und sogar autokratische Systeme funktionieren relativ gut, solange der „Druck im Kessel“ nicht zu groß wird, sei er nun wirtschaftlicher oder kultureller Natur. Erfolgreiche autoritäre Regime haben (durch ihre Beobachter, Geheimdienste usw.) die Hand nahe genug am Puls des „Volks“, um auf sich abzeichnende Spannungen mit Gegenmaßnahmen zu reagieren. Aber die Gefahr, dass es zu unkontrollierten Ausbrüchen kommt, ist immer da. Und wenn der Druck zu groß wird, weil die Führung Fehler macht, werden auch für sie die Probleme größer, siehe Türkei.

 

Aus westlicher Sicht – wenn es so etwas wie den Westen noch gibt – sollte man alles dafür tun, dass Kasachstan stabil bleibt. Flächendeckende Unruhen, Vandalismus, gewaltsame Zusammenstöße und Chaos werden das Land nicht zum Heil führen, sondern sie werden im Zweifelsfall den Einfluss Russlands erhöhen. Insbesondere möchte ich all jene warnen, die glauben, dass es in der Folge von derartigen Manifestationen des Volkszorns mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu einer Demokratisierung und Reformierung von Staat, Politik und Gesellschaft kommen werde. Die Lehren aus dem „Arabischen Frühling“ stehen noch im Raum, als (zu Recht) aufgebrachte Massen tatsächlich glaubten, nach der Beseitigung der bestehenden autokratischen Ordnung werde – da ja unbestreitbar ein Wechsel stattfinde –automatisch etwas anderes kommen. Das ist aber ein Irrtum. Auf die Beseitigung eines autokratischen Regimes folgt in den allermeisten Fällen keine Demokratie, sondern nur ein weiteres autokratisches System. Das postkoloniale Afrika, die arabische Welt, Iran und Russland sind gute Beispiel dafür.
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