Molla Pәnah Vaqif: Eine Schlüsselfigur der aserbaidschanischen Geschichte

Molla Pәnah Vaqif: Eine Schlüsselfigur der aserbaidschanischen Geschichte

8. сентября 2021 0 Автор Dr. Michael Reinhard Heß
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Dr. Michael Reinhard Heß

Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe. Thema der Habilitation waren Leben und Sprache des aserbaidschanischen Dichters İmadәddin Nәsimi (1370–1417).

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Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.

Es mag seltsam wirken, eine Würdigung des Gelehrten, Poeten, Pädagogen und Staatsmannes Molla Pәnah Vaqif (1717-1797)  ausgerechnet mit dem Restaurator der aserbaidschanischen Unabhängigkeit Heydәr Әlirza oğlu Әliyev (1923-2003) zu beginnen. Aber nur so kann man die immense Bedeutung, welche das Erbe Molla Pәnah Vaqifs im kollektiven Gedächtnis Aserbaidschans jenseits seiner Bedeutung als historische und literarische Figur bis heute hat, vollkommen verstehen. Alles hat damit zu tun, dass Molla Pәnah Vaqif eine der zentralen Persönlichkeiten im Khanat Karabach (1747 oder 1748 bis 1822) und dessen Hauptstadt Schuscha war.

Heydәr Әliyev war 1969 bis zu seinem Tod, also – mit einer kurzen Unterbrechung – über den Systemwechsel von 1991 hinweg, ohne jeden Zweifel die politisch dominierende und prägende Figur Aserbaidschans. Auch wenn es in der Sowjetära – im Unterschied zu der blutigen Periode davor – in der UdSSR keine größeren Gewaltausbrüche zwischen Aserbaidschanern und Armeniern gab, schwelte der in den Jahren 1905 bis 1906 zum ersten Mal explodierte und dann nie wieder erloschene Konflikt zwischen beiden Volksgruppen auch unter sowjetischer Herrschaft weiter. Unter den Bedingungen der Sowjetdiktatur wurde er nur mit ganz anderen Mitteln, aber keineswegs weniger unerbittlich, ausgetragen. Einer der Ebenen der Auseinandersetzung war (und ist bis heute) der Kampf um das kulturelle Erbe Karabachs. Armenische Intellektuelle fabrizierten eine Geschichte des Gebiets, die in der klassischen Antike begann und in der der Beitrag der Aserbaidschaner kaum eine oder allenfalls nur eine negative Rolle spielte. Das Ziel vieler solcher Geschichtsklitterungen war, Karabach mit der Armenischen Sowjetischen Sozialistischen Republik zu vereinen oder zum Teil eines Großarmeniens zu machen.

Die Ernsthaftigkeit und die Systematik, mit der diese armenischen Bestrebungen nach dem Zweiten Weltkrieg betrieben wurden, konnten Heydәr Әliyev, der zeitweise auch Chef des aserbaidschanischen KGB war, natürlich nicht entgehen. Ein Teil seiner Antwort waren Initiativen zur Wiederherstellung und Bewahrung des kulturellen, unter anderem architektonischen Erbes Schuschas und Karabachs, die in den 1970er Jahren begannen.

 
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Selbstverständlich richtete Heydәr Әliyev sein Augenmerk dabei auch auf den als einer der größten Söhne Schuschas berühmten Molla Pәnah Vaqif. In den Jahren 1980 und 1981 wurde für diesen in Schuscha ein eindrucksvolles Grabdenkmal erbaut (siehe die Illustration), das Heydәr Әliyev in Person am 14. Januar 1982 in einer feierlichen Zeremonie eröffnete. Bei dieser Gelegenheit besuchte Әliyev besuchte auch die „Vaqif-Tage der Dichtkunst“ (Vaqif poeziya günlәri) und eröffnete das „Haus der Dichtkunst“ (Poeziya evi). Der Hintergedanke Heydәr Әliyevs bei der so manifesten Würdigung des Dichters und Staatsmannes war augenscheinlich, einen unübersehbaren Beweis dafür auszustellen, dass es schon gut 200 Jahre zuvor eine hochstehende aserbaidschanische Kultur und politische Präsenz auf dem Gebiet Schuschas und Karabachs gegeben hatte. Keine Figur eignet sich besser, um beide Aspekte zugleich zu illustrieren, als eben Molla Pәnah Vaqif. Um zu verstehen, warum eine solche demonstrative Würdigung notwendig war, muss man sich vergegenwärtigen, dass in vielen proarmenischen pseudo-historischen Darstellungen aus der sowjetischen und postsowjetischen Zeit nicht nur die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften der Aserbaidschaner in der Zeit des Khanats geleugnet werden, sondern nicht selten auch dessen reine Existenz. Sachlichkeit ist bekanntlich in sowjetischen noch in postsowjetischen Werken zu historischen Themen alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Genau 39 Jahre nach dem erwähnten Besuch Heydәr Әliyevs in Schuscha (es sollte noch ein weiterer folgen), am 14. Januar 2021, kam sein Sohn İlham, das jetzige Staatoberhaupt Aserbaidschans in die nach knapp dreißig Jahren von armenischer Besetzung befreite Stadt. İlham Әliyev sprach sich dabei unter anderem für die Wiedereinführung der „Vaqif-Tage der Dichtkunst“ aus. Das während der Zeit der armenischen Okkupation verfallene Vaqif-Denkmal soll in Kürze wiederhergerichtet werden.

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Quelle der Illustration: https://de.wikipedia.org/wiki/Vaqif-Mausoleum...
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Wer aber war dieser Molla Pәnah Vaqif, der es fast zwei Jahrhunderte nach seinem Tod noch schaffte, unter anderem durch ein prachtvolles Mausoleum geehrt zu werden?

Schon allein deshalb, weil Molla Pәnah Vaqif als Staatsmann mindestens ebenso bedeutend war wie als Dichter, ist es unmöglich, ihn in einem kurzen Artikel auch nur annähernd angemessen zu würdigen. Stattdessen seien ein paar grundlegende Aspekte kurz beleuchtet.

Als Geburtsort Molla Pәnah Vaqifs gilt ein in Qazax (im Norden der Republik Aserbaidschan, nahe der georgischen Grenze) gelegenes Dorf namens Salahlı oder Qıraqsalahlı. Nachdem Molla Pәnah Vaqif in seiner Heimatregion eine Weile als Lehrer (Molla, daher sein Beiname) gearbeitet hatte, verschlug es ihn und seine Familie infolge politischer Unruhen um 1759 in das weiter südlich gelegene Karabach.

Die ersten Jahrzehnte im Leben des früh durch seine Intelligenz und seinen Bildungseifer auffallenden Vaqif waren kein Zuckerschlecken. Das gilt auch für die Periode nach seiner Ankunft in Schuscha, die ungefähr 1770 oder 1771 stattfand. Die folgenden Verse aus einem von Molla Pәnah Vaqif gedichteten qoşma (eine wichtige Form der aserbaidschanischen silbenzählenden Dichtung) hat man auf diese entbehrungsreiche Periode bezogen:
Allaha bizmişik naşükür bәndә
Bir söz desәm, dәxi qoymazlar kәndә
Xalq batıbdır noğla, şәkәrә, qәndә,
Bizim evdә axta zoġal da yoxdur.
„Allah! Wir sind Wesen, die dankend dich preisen!
Doch sprech ich ein Wort, vom Dorf sie mich weisen!
Das Volk hat noğul, viel Zucker zum Speisen,
Wo Kornelkirschen, selbst rohe, uns fehlen.“
Hierzu muss man wissen, dass das aserbaidschanische Wort noğul „eine Art kleine runder Süßigkeit mit aufgerauter Oberfläche, die mit Koriandersamen gefüllt ist“ (içәrisinә keşniş tumu qoyulmuş xırda, üstü kәlә-kötür, yumru şirin növü) bezeichnet.
Auch in Schuscha arbeitete Vaqif als Lehrer, er gilt sogar als Begründer der ersten Schule der Stadt. Dort nahm sein Leben dann aber auch eine überaus glückliche Wendung. Der damalige Herrscher des Khanats von Karabach, İbrahimxәlil, der von 1763 bis zu seiner Ermordung durch die Russen im Jahr 1806 regierte, wurde auf ihn aufmerksam. Er machte Vaqif zu seinem Berater, Kanzleichef und Wesir, was das wichtigste Amt nach dem Khansposten selber war. Vaqifs Kenntnisse und Fähigkeiten beeindruckten rasch nicht nur den Schuschaer Hof, sondern auch das Ausland. Katharina die Große, Kaiserin von Russland (1729-1796, regierte von 1762 bis zu ihrem Tod), bemerkte einmal, dass die offiziellen Schreiben des Khanats von Karabach eleganter und schöner seien als selbst die aus dem Iran und aus dem Osmanischen Reich kommenden. Als wichtigster Autor dieser Schreiben kann Vaqif gelten.

An dieser Stelle könnten mühelos mindestens noch zwei dicke Bücher eingefügt werden, eins, das die Bedeutung Vaqifs als Staatsmann erkundet, und eins, dass sich seinem eindrucksvollen und bis heute nachwirkenden literarischen Erbe widmet. Tragischerweise wurde der Diwan (Sammlung in klassischem Stil geschriebener Gedichte) Vaqifs nach seinem Tod vernichtet, aber zahlreiche seiner Gedichte sind dennoch erhalten geblieben. Vor allem seine qoşmas haben den Stil nachfolgender Dichter- und Dichterinnengenerationen geprägt.
Da solche langen Ausführungen hier nicht möglich sind, sei alternativ kurz auf das tragische Ende von Molla Pәnah Vaqifs Leben eingegangen, das allein ohne jegliche weitere literarische Ausschmückung Stoff für mindestens einen packenden historischen Roman oder einen Kriminalroman liefert.

Molla Pәnah Vaqifs politische Karriere erreichte in den letzten beiden Jahren vor seinem Tod ihren Höhepunkt. Damals griff der Begründer der ursprünglich turksprachigen Kadscharendynastie (die bis 1925 über den Iran herrschte), Aġa Moḥammad Ḫān (1741-1797), Karabach an. Während seiner 33 Tage dauernden Belagerung Schuschas organisierte Molla Pәnah Vaqif nicht nur die Verteidigung, sondern kämpfte auch mit der eigenen Waffe in der Hand gegen die Angreifer.
Während der hochdramatischen Angriffe auf Schuscha soll Molla Pәnah Vaqif einer Legende zufolge sogar sein dichterisches Genie eingebracht haben. Der Überlieferung zufolge schossen die Kadscharen einen an einem Pfeil befestigten Spottvers aus der Feder von Aġa Moḥammad Ḫāns Hofdichter in die belagerte Stadt hinein, um die Umzingelten zu demoralisieren. Der Vers lautete in etwa „Du Tor! Vom Himmel es hagelt die Steine/ Von Mauern aus Glas dir Wunder hoff keine!“ Der rhetorische Effekt des Verses basierte zum Teil auf einem Wortspiel aus dem neupersischen Wort für „Glas“ (šīša) und dem ähnlich klingenden Namen Schuschas. Molla Pәnah Vaqif soll auf die Provokation reagiert haben, indem er prompt einen Antwortvers dichtete. Diesen habe er, ebenfalls per Pfeil, zurückschießen lassen. Der Wortlaut war in etwa: „Der Schöpfer mit Glas mich hat umschlossen/ Doch mit festen Fels das Glas umgossen.“

Bekanntermaßen wurde Aġa Moḥammad Ḫān am 17. Juni 1797 im von ihm endlich eingenommenen Schuscha unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen ermordet (Stoff für einen weiteren Historienschinken-cum-Krimi). Während der Besetzung Schuschas durch die Kadscharen war Molla Pәnah Vaqif von diesen ins Gefängnis gesteckt worden. Unmittelbar nach der Ermordung Aġa Moḥammad Ḫāns – in die Molla Pәnah Vaqif wahrscheinlich auf die eine oder andere Weise verwickelt war – kam der Wesir dann aus dem Gefängnis frei, in das ihn der Kadscharenschah hatte werfen lassen. Doch dann ließ (nach einer verbreiteten Darstellung) ein gewisser Mәhәmmәd bәy, ein Neffe des Khans İbrahimxәlil, der die Abwesenheit seines Onkels aus Schuscha ausgenutzt hatte, um sich selbst zum Herrscher Karabachs von Aġa Moḥammad Ḫāns Gnaden aufzuwerfen, Molla Pәnah Vaqif ebenfalls ermorden, und zwar zusammen mit dessen Sohn Әli bәy. Vater und Sohn wurden zur Exekution auf das Cıdır düzü (Cıdır-Ebene) die berühmte Ebene südlich der Stadt Schuscha, geführt, wo Molla Pәnah Vaqif dann auch beigesetzt wurde.

Mәhәmmәd bәys verwandtschaftliche und politische Position lässt auf den ersten Blick vermuten, dass die Ermordung des ehemaligen Wesirs ein politisches Motiv gehabt haben könnte. Eventuell wollte der Mörder einen Gegenspieler im Kampf um die Macht aus dem Weg räumen oder verhindern, dass Molla Pәnah Vaqif unliebsamen Nachforschungen über Mәhәmmәd bәys Kollaboration mit dem Schah von Persien nachging. Anderseits ist in der Literatur noch ein ganz anderes Motiv ins Spiel gebracht worden. Und zwar wird vermutet, dass Mәhәmmәd bәy die zweite Frau Molla Pәnah Vaqifs, Qızxanım, die für ihre außerordentliche Schönheit bekannt war, für sich begehrte. Für diese Hypothese könnte sprechen, dass Mәhәmmәd bәy sich Qızxanım nach Molla Pәnah Vaqifs Tod auch tatsächlich zur Frau nahm. An dieser Ehe konnte sich der kurzzeitige Statthalter Aġa Moḥammad Ḫāns jedoch nicht lange erfreuen, denn kurze Zeit später wurde er selber ebenfalls hingerichtet.

Der tragische Tod des großen Wesirs, Gelehrten, Pädagogen und Dichters Molla Pәnah Vaqif bleibt so oder so bis heute von einem Schleier des Mysteriösen umweht.

Man kann leicht verstehen, warum die sichtbare Präsenz Molla Pәnah Vaqifs in Schuscha und die Bekanntmachung dieser großen Persönlichkeit in der Welt für Aserbaischaner aller Zeiten und Orte seit dem 18. Jahrhundert eine so große Bedeutung hat: Allein diese eine Person ist die greifbare Widerlegung aller Geschichtsverstümmelungen, die die aserbaidschanische kulturelle und politische Präsenz in Karabach im 18. Jahrhundert leugnen wollen.
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