Molla Nasreddin. Aserbaidschans literarisch-geistige Perle
21. декабря 2020 0 Автор Asif MasimovDr. Samir Hasanov
Politikwissenschaftler
Verschwörungsartige Klischees über Muslime in der westlichen Welt sind im Lichte islamistischer Terroranschläge in europäischen Großstädten der letzten Jahre Gang und Gäbe. Sie seien meist ungebildet, fanatisch, integrationsunfähig, können sich von reaktionären ideologischen Vorstellungen des Islam nicht lösen und würden eine mittelalterlich-patriarchalische Lebensweise führen. Muslimische Staaten hätten angeblich nie eine Phase der religiösen Aufklärung gehabt. Islam als Glaubensrichtung hinke dem Christentum und Judentum hinterher und sei im Grunde genommen eine Ideologie der Macht, der nur Gewaltherrschaft und radikale Ansichten in die ganze Welt exportieren würde. Aber sind wirklich alle muslimische Nationen in ihrer „zivilisationsfernen Wahnwelt“, wie behauptet, verfangen? Das folgende Beispiel beweist wenigstens, dass die Aufrufe zur inneren Reformation des Islam bereits vor mehr als 100 Jahren und zwar in einem kleinen muslimischen Land ihren Lauf nahmen.
Dem breiten deutschsprachigen Raum, wie im Übrigen der europäischen Öffentlichkeit sagt der Name „Molla Nasreddin“ sicherlich nicht viel. Wenigstens im akademischen Kreis ist Molla Nasreddin, um dessen Persönlichkeit als historische Figur sich bisher zahlreiche Mythen ranken, als Volksweiser, Schwanksammler und Eulenspiegel des Orients bekannt. Mit seinen kurz pointierten lustigen Erzählungen soll er von der Türkei über Aserbaidschan und Iran bis nach Afghanistan einen großen Namen gemacht haben. Allerdings haben nur sehr wenige von der Existenz der gleichnamigen Zeitschrift in Aserbaidschan zwischen 1906-1931 was mitbekommen. Das vom berühmten aserbaidschanischen Schriftsteller, Denker und Aufklärer Dschälil Mämmädguluzadä (1866-1932) konstituierte wöchentliche Magazin war die allererste, fortschrittlichste und liberal-demokratisch ausgerichtete Illustrierte im gesamten Orient, welche couragiert die politisch-sozialen Missstände ihrer Zeit in extrem satirischer Form aufgegriffen hatte. Ihre revolutionären Auswirkungen auf die nachkommende Journalisten- und Intellektuellengeneration im Südkaukasus, Türkei, Iran und Mittelasien ragen bis in die Moderne hinein. Neben unermüdlichem Engagement für mehr Bildung und Aufklärung in Aserbaidschan nahmen die Autoren der Zeitschrift unter anderem die Rückständigkeit des muslimischen Orients gegenüber dem christlichen Okzident, soziale Ungleichheit, kulturelle Assimilation, den religiösen Fanatismus wie Fundamentalismus der persischen Mullahs und osmanischen Sultane sowie die absolutistische bzw. imperialistische Herrschaft des russischen Zarenreichs kühn aufs Korn.
Die einzigartige Besonderheit von Molla Nasreddin (MN) manifestierte sich darin, dass die Verfasser nicht durch komplizierte Texte, sondern mittels humoriger Karikaturen und lustiger Cartoons die Nähe zu ihren Lesern suchten, denn in der vom religiösen Extremismus verblendeten aserbaidschanischen Gesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts konnte die Mehrheit der Bevölkerung weder lesen, noch schreiben. Über die lebensbedrohlichen Gefahren, die mit der Veröffentlichung von MN zum Vorschein kamen, waren Dschälil Mämmädguluzadä, genannt auch Mirza Dschälil und sein ambitioniertes Team durchaus im Klaren. Die verbissenen Geistlichen in Persien hatten es nicht allein auf das Publikationsverbot des Magazins angelegt. Sie sagten, dieses „schmähliche Papier“ gehöre nicht ins Haus eines Moslems. Man solle es am liebsten „mit der Zange fassen und in der Toilette entsorgen“. Sie trachteten zudem danach, Mirza Dschälil und seine Mitläufer um jeden Preis aus dem Weg zu schaffen. Mehrere Attentatsversuche schlugen fehl. In seinen späteren Memoiren erinnert sich der Schöpfer: „Hätte ich das Journal nicht in Tiflis, sondern in Baku oder Eriwan (Hauptstadt der heutigen Republik Armenien, wo zum damaligen Zeitpunkt die Aserbaidschaner überwiegende Mehrheit bildeten) veröffentlicht, hätten die (Mullahs) meine Redaktion verwüstet und mich selbst ermordet.“
Es gab zwei entscheidende Beweggründe, weshalb ausgerechnet Tiflis als Gründungsort von MN auserkoren war: Erstens hatte in der heutigen aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan geborene Mämmädguluzadä ein Großteil seiner Jugend in Georgien verbracht und dort im Lehrergymnasium der Stadt Gori (Geburtsstadt von Joseph Stalin) studiert. Nachdem er ab 1903 in Tiflis heimisch wurde, kam es zur engen Freundschaft und langjährigen Zusammenarbeit mit Ömar Faig Nemanzade(1872-1940), dem prominenten aserbaidschanischen Publizisten, der als ein weiterer geistiger Vordenker des Magazins galt. Zweitens genoss Tiflis als kulturelle Hauptstadt des Zarismus im südlichen Transkaukasien großes Ansehen unter liberal-kritischen Intellektuellen, wobei man sich vor allem nach der Niederlage Russlands im Krieg gegen Japan 1905 außer Reichweite der Zensur an gewissen Freiheiten erfreuen konnte. Außerdem war hier der Einfluss von iranischen Klerikern anders als in Baku und Eriwan deutlich limitiert.
Die Genialität von Mirzä Dschälil bestand in seinem weitsichtigen Vermögen, die Gunst der Stunde zu nutzen und MN in kürzester Zeit zu einem Gravitationszentrum für „helle Köpfe“ seiner Periode wie namhafter Satiriker Mirzä Äläkbär Sabir, Dramatiker Abdurrähim bay Hagverdiyev, Literaturwissenschaftler Salman Mumtaz, Dichter Äli Nazmi, Romanschriftsteller Mämmäd Said Ordubadi, Komponist Üzeyir Hadschibeyli etc. zu katapultieren. Abgerundet wurde diese Reihe durch professionelle deutsche Cartoonisten wie Oskar Schmerling und Joseph Rotter, denen sich später aserbaidschanischer Karikaturist Äzim Azimzadä (1880-1943) angeschlossen hatte. Je tiefer man in die politisch-gesellschaftlichen Verwirrungen des südlichen Kaukasus zwischen 1905-1917 eintaucht, desto bewunderungswerter erscheint die Tatsache, unter welchen großen Entbehrungen die Publikation des Blatts überhaupt stattfand, und wie die Autoren dabei erhebliche Risiken billigend in Kauf nahmen. Nach über 300 gelungenen Ausgaben in Tiflis im besagten Zeitabschnitt zog die Redaktion mit dem Zerfall des Zarenreichs und der Etablierung der Demokratischen Republik Aserbaidschan(DRA), der ersten demokratisch legitimierten Staatsformation der islamischen Welt, 1918 nach Baku. Eine genauere Analyse offenbart in diesem Zusammenhang das unschätzbare literarische Vermächtnis dieser einzigartigen Aufklärergeneration, die um MN herum zusammengeschlossen war. Es ging darum, dass sich unter einer breiten Leserschaft des Magazins auch die Gründungsväter der DRA wie Mämmäd Ämin Räsulzadä, Fatali Chan Choyski, Nasif bäy Yusifbayli etc. fanden. Den langjährigen Kampf von Mirzä Dschälil und co. für die Emanzipation aserbaidschanischer Gesellschaft aus den Finsternissen des Mittelalters, ihre westorientierte Transformation, Gleichberechtigung und allgemeine Schulpflicht für Frauen ließen die treuen Verfolger von MN 1919 Wirklichkeit werden, indem den Frauen etwa zur gleichen Zeit wie in den USA oder Deutschland das Wahlrecht gewährt wurde.
Als Aserbaidschan 1920 sowjetisiert wurde, war der radikale islamische Klerikalismus in den Köpfen weitestehend zurückgedrängt worden, zumal die neuen Machthaber die Religion als ein konkurrierendes Denksystem zum Kommunismus betrachteten. In der Entstehungsphase der Sowjetherrschaft setzte das Satirejournal zwischen 1922-1931 mit aserbaidschanisch und gelegentlich russischsprachigen Beiträgen seine intensiven Modernisierungsbestrebungen in Baku weiter fort. Sie setzte sich außerdem mit erzwungener Reformpolitik der Bolschewiki kritisch auseinander. Auf diese Epoche fallen mehr als 400 erschienenen Ausgaben. Mit zunehmender Verschärfung innerstaatlicher autoritärer Tendenzen unter Joseph Stalin wurde das Umfeld für kritische Stimmen in der Sowjetunion gegen Ende der 1920er immer prekärer. Aus dem Zentralkomitee wurden die Aufforderungen lauter, Mirza Calil solle die ideologischen wie thematischen Richtlinien von MN auf die des Sozialismus anpassen. Einher ging die Abwärtsentwicklung mit der sukzessiven Verschlechterung des Gesundheitszustands des
Herausgebers. Mit der letzten Edition von MN im Jahre 1931 schloss Mämmädguluzadä das letzte Kapitel seiner herausragenden akademischen Karriere.
Molla Nasreddin war und bleibt ein geistig-kulturelles Meisterwerk und ganzer Stolz der aserbaidschanischen Renaissance Anfang des 20. Jahrhunderts. Die einst um dieses Satireblatt gescharte Creme a la Creme, die sich wiederum mit anspruchsvollen Abhandlungen neue Wege für die Artikulation ihrer Visionen aussuchte, leitete eine epochale Phase bei der Herausbildung des nationalstaatlichen Selbstverständnisses der Aserbaidschaner ohne konfessionellen Rahmen ein. Selbst mehr als 100 Jahre danach sorgen die progressiven Reformansätze des Vorzeigeprojekts von Mirzä Dschälil und co. dafür, dass Aserbaidschan im 21. Jahrhundert in Sachen Säkularismus, Modernisierung und interreligiöse Toleranz zu den Vorreitern der islamischen Welt zählt. Es sprengt gleichzeitig sämtliche Stereotypen in vielen westlichen Ländern über vermeintlich ungebildete, unzivilisierte oder zum Terrorismus neigende Muslime. Für westliche Islamwissenschaftler, Politik-Experten oder Medienvertreter wäre es sicherlich hilfreicher, im öffentlichen Islamdiskurs sich an die Errungenschaften der islamischen Aufklärung in Aserbaidschan anzuknüpfen und die Notwendigkeit eines vergleichbaren Entwicklungsstadiums für die restliche muslimische Welt in der Gegenwart zu akzentuieren, statt auf defizitäre Wertevorstellungen in muslimischen Gesellschaften oder auf „unüberbrückbare kulturelle Differenzen“ zwischen dem christlichen Westen und muslimischen Osten hinzuweisen.
Quellen:
Babaev B.: Čemenzeminli V.Ju. i žurnal „Molla Nasreddin“, Vestnik KazNu. Serija filologičeskaja, No2(132). 2011, C. 244-246.
Caferoglu, Ahmed: Die moderne aserbaidschanische Literatur, in: Spuler B. u.a.: Handbuch der Orientalistik. Der Nahe und Mittlere Osten. Altaistik. Erster Abschnitt Türkologie, Leiden/Köln 1982, S. 423f.
Encyclopedia Irania: Molla Nasreddin ii. Political and Social Weekly, in: http://www.iranicaonline.org/articles/molla-nasreddin-ii-political-and-social-weekly.
Khalilova, Konul: How Muslim Azerbaijan had satire years before Charlie Hebdo, 28. February 2015, in: http://www.bbc.com/news/world-europe-31640643.
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