Einmal «Menü Karabach» extra scharf, bitte! — Wenn es manchem unter der Maske zu heiß wird…

By Matthias Wolf Июл19,2020
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Titelbild: Samir Tan

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Matthias Wolf

Sprachwissenschaftler und Lehrer (Potsdam)

Es war nicht das erste Mal, dass ich in meiner fast zehnjährigen Arbeit für die aserbaidschanische Diaspora in Deutschland bei einer Demonstration mitlief, in der die Beendigung der armenischen Aggression in Bergkarabach gefordert wurde. Nur allzu oft hatte ich erlebt, dass die Kundgebungen so laut und voll von Teilnehmern waren, dass man Mühe hatte, sich mit dem Nebenmann oder der Nebenfrau zu unterhalten. Aber am Ende war es fast immer eine gelockerte Atmosphäre gewesen, in der wir uns, deutsche (ja, auch die gab es da) und aserbaidschanische Flaggen über der Schulter tragend, wieder vom Ort des Geschehens entfernten, um uns in einem der vielen guten Berliner Restaurants die Lamm-Köfte mit Reis oder einfach nur einen schwarzen Tee mit Zitrone schmecken zu lassen. Doch diesmal, am 18.Juli 2020, schien alles anders zu laufen. Das sah man schon quasi von Ferne, wenn man, wie ich an jenem Tag, mit einer kleinen Verspätung zu den Teilnehmern stieß.

Zunächst hatte ich gedacht, die Kundgebung würde an einer Art Hauptstraße stattfinden, so wie ich es in der Vergangenheit schon gesehen hatte. Doch weit gefehlt! Ein eng bebautes Wohngebiet beherbergte das, was ich später als die Botschaft Armeniens erkannte. Von Ferne bereits hatte ich die blau-rot-grünen Flaggen gesichtet, die mir anzeigten, dass ich hier genau richtig war. Auch einige bekannte oder besser gesagt wohl vertraute Gesichter sah ich gleich darauf. Es erschollen die Rufe, die ich so gut kannte, die mittlerweile auch Musik in meinen Ohren waren: «Qarabağ, bizimdi, bizim olacaq!» (Karabach war unser und wird unser bleiben) Oder: «Şəhidlər ölməz, vətən bölünməz!» (Die Märtyrer sterben nicht und das Land ist nicht teilbar) Schließlich trat einer der Redner vor und brach, verstärkt durch ein Megafon, eine Wutrede vom Zaun, die in ihrem Inhalt in jeder Hinsicht akzeptabel war, jedoch an Nachdruck und Schärfe eine neue Qualität erhalten hatte. Hier bereits merkte ich, dass diese Demonstration nicht mehr die geduldige Aufforderung von einst war, sondern Wut, Schmerz und eine bittere Anklage der politisch Verantwortlichen enthielt. Ich verstand den Redner nur zu gut, kannte ich doch die Trägheit europäischer Politik und wusste ich doch um die vielen zivilen Opfer, die Aserbaidschan in diesem Kampf hatte zählen müssen. Doch plötzlich schwöll der Lärm an und ich blickte um mich.

Eine Gruppe junger Männer mit türkischen Flaggen schrie sich geradezu in Ekstase, ihre Gesichter verzogen sich zu bösartigen Grimassen und der «Wolfsgruß», eine Geste der Vereinigung «Graue Wölfe» (türkisch «Bozkurt») wurde gezeigt. Ein weiteres Element verstärkte die Aggressivität noch. Während der Redner, ein Freund von mir, die Stimme anhob und erklärte, der Konflikt habe einen territorialen, aber keinen religiösen Hintergrund, während er ausführlich erläuterte, dass nur Propagandisten die religiöse Karte bei einem uninformierten Publikum ausspielen und während er gleichzeitig darauf hinwies, dass Aserbaidschaner zwar Muslime seien, aber deswegen nicht automatisch zu Aggression neigen, skandierten jene, die zuvor den Wolfsgruß gezeigt hatten plötzlich «Allahu Akhbar» (arab. «Gott ist groß»). Ich war geschockt. Was war denn jetzt los? Waren das verkappte Extremisten, Provokateure, einfach nur Idioten? Von den übrigen Männern und Frauen folgte, Gott sei Dank, niemand ihrem Beispiel. Aber für mich war eines klar: Diese Leute waren völlig neben der Spur.

Nach einer Weile war ich dann mit einem Beitrag an der Reihe. Die Stimmung war inzwischen so aufgeheizt, dass es um mich herum immer lauter wurde. Gegen den Lärm ankämpfend brüllte ich meine Sätze ins Megafon. Die Stimmung übertrug sich allmählich auch auf mich. Ich beschimpfte die armenische Seite als Unmenschen, forderte für Aserbaidschan das Recht auf Heimat ein und wechselte sogar zweimal die Sprache, da mir auf Deutsch die Emotionalität nicht ausreichte. Auf Aserbaidschanisch bekräftigte meine Solidarität und nannte das armenische Vorgehen «Verbrechertum». Auf Russisch schrie ich den europäischen Politikern zu, sie sollten endlich die Augen aufmachen. Durch eine Frage unterbrochen erklärte ich, dass die deutsche Gesellschaft generell desinformiert zu diesem Thema sei und das Handeln unserer Regierung nichts mit der Meinung unserer Zivilbevölkerung zu tun habe.

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Nach noch zwei oder drei anderen Beiträgen endete dann die Kundgebung. Hände wurden geschüttelt, manche wollten sogar ein Selfie mit mir. Alledem stimmte ich mehr oder weniger teilnahmslos zu. Denn in meinem Kopf ging schon der Satz um: «Nichts war heute wie sonst.» Nach ein paar dankenden Worten an unsere Sicherheitskräfte verließen wir den Platz vor der Botschaft Armeniens. Mit drei Freunden fuhren wir zum Restaurant «Karabach». Dort begann dann der schöne Teil des Abends. Es wurde ein Abend, an dem ich wieder einmal merkte, wie liebevoll mich die Aserbaidschaner schon seit langem in ihren Reihen aufgenommen hatten.

Zwischen Desinformation und Opferrolle- zu den Aggressionen Armeniens gegen Aserbaidschan in Bergkarabach

In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, wie ein ur-christliches Land wie Armenien, das nur allzu oft auf seine christlichen Wurzeln hinweist, gegenüber seinem Nachbarland Aserbaidschan eine Politik betreiben kann, in der Waffengewalt offenbar zu einer neuen Standardlösung geworden ist.
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