Zum Jahrestag des 44-Tage-Krieges um Berg-Karabach
6. ноября 2021 0 Автор Prof. Dr. Wilfried FuhrmannProf. Dr. Wilfried Fuhrmann
ist seit April 1995 Professor an der Universität Potsdam, WiSo-Fakultät, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie, insb. Makroökonomische Theorie und Politik.
Der große patriotische 44-Tage-Krieg (27.9.-9.11.2021) endete mit der Wiederherstellung der territorialen Integrität Aserbaidschans in seinen völkerrechtlichen Grenzen und damit der vollständigen Befreiung der von Armenien völkerrechtswidrig okkupierten Gebiete und Teile Berg-Karabachs. Mit dem Waffenstillstand trat das von den Staatsführern Armeniens (Pashinyan), Aserbaidschans (Alijew) und der Russischen Föderation (Putin) unterzeichnete Vertragswerk in Kraft. Dieses Vertragswerk dient u.a. der Beendigung der Kriegshandlungen und der Sicherung des Waffenstillstandes sowie als Grundlage für endgültige Friedensverhandlungen mit dem Ziel eines umfassenden Friedensvertrages sowie der integrierten Entwicklung des gesamten Südkaukasus. Aber es gibt ein Jahr später immer noch keinen Friedensvertrag und damit keinen Frieden bzw. keine Sicherheit für Aserbaidschan und den Südkaukasus. Dieses scheint auch in naher Zukunft schwer zu erreichen sein.
I.
Die vollbrachten Aufbauleistungen in den weitgehend zerstörten Gebieten kann man in weiten Bereichen (in moderne Infrastruktur einschl. eines neuen Flughafens in Fuzuli, im Bauwesen einschl. der zumindest stark beschädigten Moscheen und Wohnhäuser, im Bereich Naturschutz usw.) als ambitioniert geplant und außerordentlich erfolgreich durchgeführt hervorheben. Dieses wird mit Sicherheit zum Wohle aller dort lebenden Menschen sowie der rückkehrenden Binnenvertriebenen schnell und gründlich fortgeführt werden. Finanzierungsprobleme sind in Aserbaidschan, aber auch im Falle einer erhofften und angestrebten wirtschaftlichen Integration des gesamten Südkaukasus nicht zu erwarten. So wird erwartet, daß die weltweit gestiegene Nachfrage nach Öl und Gas sowie die auch dadurch erhöhten Preise für Gas und Öl auch im Jahre 2022 weiterhin bestehen werden. Zu den gestiegenen Exporteinnahmen (insb. aus Öl und Gas) kommen viele zufließende Milliarden aus Direktinvestitionen sowie aus dem Tourismus.
Die Einnahmen aus dem Tourismusbereich steigen infolge der nicht nur mit Großereignissen erfolgreichen, international anerkannten Förderung dieses Bereiches im Rahmen der Diversifikation der aserbaidschanischen Wirtschaft. Einen weiteren Schub wird der gewonnene Preis „Europe`s Leading Culturell Destination“ at the World Travel Award bewirken. Was für ein großes Potential hätte der gesamte Südkaukasus im Falle eines Friedens.
Direktinvestitionen werden in Höhe von rd. 6 Mrd. US-$ allein in die Förderungssteigerung des Shah Deniz Gas und Öl Feldes fließen. Die Verträge im Rahmen des Tiefwasserprojekts ACG (Azeri, Chiray, Gundashli), welches von einem internationalen Konsortium als PSA (producing-sharing-agreement) geführt wird, wird bis 2049 verlängert. Diese Sektoren werden bei einer jetzt absehbaren diesbezüglichen Einigung über die Zuordnung der Nutzungsrechte des Kaspischen Meeres wirtschaftlich boomen.
II. Die Probleme aber liegen im Feld der Politik. II.1.
So erscheint der armenische Premierminister Nikol Pashinyan nicht ausreichend in der Erkenntnis gefestigt zu sein, daß der geschichtlich scheinbar vorgezeichnete andauernde blutige Pfad nur mittels von Verhandlungen verlassen werden kann. Nur Recht und Kompromisse bzw. Verständigung führen zum Frieden für beide Länder und den Südkaukasus. Irritierend ist beispielsweise, daß an der jüngsten Sitzung des armenischen Sicherheitsrats auch der sog. Präsident der illegalen NKR-Regierung in einem Teil von Berg- Karabach, Araik Hautjunyan teilgenommen hat. Vergleichbar irritierend ist auch der Parlamentsbeschluß vom 26.10.21, nach dem Aman Maralchyan (Oberkommandierender der Grenztruppen) sowie Kamo Kochunts (Generalstabchef der Streitkräfte) bei vollem Rederecht an Diskussionen in hohen politischen Gremien u.a. über Grenzverlaufsfragen (border delimitation und demarcation) teilnehmen. Die umfangreiche Okkupation aserbaidschanischer Gebiete um Berg-Karabach wurde vom Militär durchgesetzt. Und Angriffe von Scharfschützen (zuletzt am 15. Oktober 2021) sowie militärische Terrorattacken erfolgten auch innerhalb des letzten Jahres und wurden nicht mit hohen Strafen sanktioniert und derart unterbunden. Es werden weitere folgen.
Auch bringt Panshinyan immer wieder französische Sicherungstruppen (auch in Berg- Karabach?) ins Spiel. Offenbar sollen Frankreich und evtl. die EU die Position Armeniens gegen Rußland und Aserbaidschan stärken. Damit aber scheint auch Panshinyan weder die völkerrechtlichen Grenzen Aserbaidschans noch den Status von Berg-Karabach insgesamt bedingungslos anzuerkennen. Oder kämpft er um den maximal erreichbaren Grad der armenischen Autonomie in einem Teil Berg-Karabachs? Mit allem scheint Panshinyan auch ein Spiel auf Zeit bei den Friedensverhandlungen treiben zu wollen – vergleichbar mit jenem nach dem ersten Waffenstillstand. Wird es dann mehr als drei Jahre dauern?
Rußland lehnt diesen Vorstoß strikt ab, wenn dadurch Regelungen des Waffenstillstands-vertrags aufgeweicht oder verändert werden sollen. Dabei ist Rußland an einer schnellen Friedenslösung interessiert, damit es zu keiner umfassenden Aufrüstung und erneuten Kriegsfähigkeit kommt. Diese aber kann u.U. schon in drei Jahren wieder erreicht sein. Frankreich und die EU schütten dann möglicherweise Öl ins Feuer mit ihren zugesagten Hilfen in Milliardenhöhe für Armenien. Ein schneller Friede aber gibt zugleich dem Südkaukasus die notwendige innere Ruhe und Sicherheit angesichts der befürchteten Herausforderungen und sog. spill overs aus Afghanistan mit den regierenden Taliban.
II.2.
Um die Verhandlungen voranzubringen schlägt Rußland eine südkaukasische Verhandlungsplattform 3 : 3 vor mit den Ländern Armenien, Aserbaidschan und Georgien sowie dem Iran, Rußland und der Türkei. Armenien und Georgien stehen dem Vorschlag skeptisch bis ablehnend gegenüber. Armenien scheint somit die alleinigen russischen militärischen Sicherungstruppen, nicht nur wegen ihrer effektiven Behinderung von armenischen Überfällen ebenso wie derartige Verhandlungen abzulehnen. Aber es ist ein regionales Problem des Südkaukasus, der nicht zu einem Feld der machtübenden EU werden darf, auch wenn Pashinyan sie dazu einzuladen scheint.
Eine umfassende regionale Lösung erscheint schon notwendig zu sein für die Schaffung des von Aserbaidschan und der Türkei geforderten Korridors durch die armenische Provinz Zangezur. Es sollen damit Nachitschewan mit dem anderen Teil Aserbaidschans und damit Aserbaidschan mit der Türkei verbunden werden. Zugleich soll derart die Region in die internationale Verkehrsinfrastruktur eingebunden werden („Seidenstraße“) und für alle den Wohlstand erhöhen. Die Provinz aber hat nationalistisch und machtorientiert sich gleich nach dem Waffenstillstand gegen Panshinyan gestellt. Armenien ist gegen diesen Korridor.
II.3.
Der Iran unterstützt die armenische Haltung aus mehreren Gründen: Der Iran und die Türkei verfolgen unterschiedliche Ziele im Nordirak und sind derart Rivalen. Der Iran steht auch dem Afghanistan-Problem gegenüber und befindet sich nicht im Gleichklang mit Pakistan. Er fürchtet deshalb alleine zu stehen und zugleich marginalisiert zu werden. Der Iran nutzt die Landverbindung zu Armenien für seinen Export nach Europa (man spricht auch von Drogen) sowie für den Zugang zum russischen Markt. Zentral aber scheinen für den Iran mit seiner über die Jahre gezeigten „Nähe“ zu Armenien, auch bezüglich Berg-Karabach, zwei Aspekte zu sein. Dieses ist erstens die befürchtete Stationierung von israelischen Einheiten in Aserbaidschan an der Grenze zum Iran. Und zweitens befürchtet der Iran mögliche Unruhen in der aserbaidschanischen Bevölkerung im Iran. Die Stationierungsabsichten hat Aserbaidschan dementiert, aber es testet möglicherweise in der Region eigene nationale Langstrecken-Drohnen.
Bei den über die letzten Jahre zu beobachtenden kühlen, fast schon leicht polarisierten Beziehungen zwischen beiden Ländern scheint der Weg zur notwendigen regionalen Kooperation und Integration schwierig und zeitaufwendig. Der Weg zu einem regionalen Frieden erfordert von Aserbaidschan und auch der Türkei mehr als nur positive Signale für verbesserte Beziehungen. Das gegenseitige Vertrauen ist über Diskussionen und Konsultationen ebenso zu stärken wie es die intra-regionalen wirtschaftlichen Bindungen sind. Ein Anknüpfungspunkt dabei kann der Import von Waren aus dem Iran sein, da Aserbaidschan der viertgrößte Importeur iranischer Waren ist. Dieses würde zugleich demonstrieren, dass der Iran nicht fürchten muß, im Falle des intensivierten Warenaustausches durch den Korridor ausgegrenzt oder „marginalisiert“ an den Rand gedrückt zu werden. Diesem Ziel können auch politische „Vorleistungen“ in Form von Auftragsvergaben an den Iran dienen, deren Zweck die Einbeziehung des Irans in den ökonomischen Wiederaufbau Aserbaidschans und der Gesamtregion und damit letztlich auch des Iran ist. Dieses aber ist eine politische Herkulesaufgabe.
III.
Entscheidend aber wird die Vertrauensbildung und De-Eskalation in Armenien sein und das politische Überleben des armenischen Premiers Nikol Panshinyan. Bei aller Skepsis scheint er der einzige Hoffnungsträger in Armenien für einen Friedensvertrag zu sein.
Zwar hat seine Allianz/Koalition die Parlamentswahl mit fast 2/3 der Sitze gewonnen, aber schon die erste Sitzung des Parlamentes am 2. August 2021 zeigte die radikalisierte, unversöhnlich feindliche Haltung der Opposition bzw. der „Allianz Armenien“ und ihre ständigen Bemühungen, „Berg-Karabach“ in alle Gesetze usw. einzubringen. Anhaltende persönliche Diffamierungen wie „capitulator Nikol“ (im Sinne von Verräter Armeniens), der froh ist, Berg-Karabach „los geworden zu sein“, führten zu einer das politische Geschehen überdeckenden gewaltigen Diskussion über Meinungs- und Pressefreiheit bis hin zu Gesetzesänderungen.
Zugleich warfen Politiker der Mehrheitskoalition sowie Teile der Presse der Opposition vor, Armenien zerstören zu wollen. Damit klang der fast schon Tradition gewordene, aber unausgesprochene Gegensatz zwischen den selbstgerechten und „kriegstreibenden“ West-Armeniern (annähernd die Diaspora) und den ärmeren, opferbereiten und opferbringenden Ost-Armeniern (die in Armenien wohnende Armenier) an. Und zugleich verweist es auf das Problem der Auswanderung, insb. der jüngeren Armenier mit den Folgen einer stark schrumpfenden Bevölkerung und regionalen „Entvölkerung“ in der Republik Armenien.
Die Ost-Armenier spüren, daß es zwei armenische Narrativ bzw. die zwei Sätze gibt. Die Armenier zeichnen sich, vergleichsweise den Russen, durch eine große Opferbereitschaft aus. Der zweite Satz besagt: alles „Armenische“ ist gerecht, gut, wahr und göttlich. Hier taucht ständig die Geschichte des kleinen David (Armenier) und des großen, völker-mordenden Goliath (Türken) auf. Mit derartigen Geschichten muß man leben.
Gleichwohl führen und spüren viele Ost-Armenier die Antinomie dieser Narrative. Es passt nicht zusammen und kann nicht stimmen – deshalb scheint Krieg stets als eine Auflösung.
Panshinyans politische Stärke hängt auch von der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung ab. Politisch verdeutlich es beispielsweise der Oligarch Gagik Tsarukyen („Prosperous Armenian“), der Panshinyan nur aus wirtschaftlichen Interessen stützt. Und wie bröckelig Wahlergebnisse sein können, das zeigen die neuesten Kommunalwahlen in den größeren Städten, in denen Panshinyans Partei überraschend eingebrochen ist und die vereinten auftretenden Oppositionsparteien bzw. die geschlossen auftretenden armenischen Nationalisten triumphierten.
Die wirtschaftliche Lage und Entwicklung in Armenien muß sich verbessern werden, um den historisierenden pan-armenischen Politikern den Nährboden zu entziehen.
Prof. Dr. Wilfried Fuhrmann
Potsdam
4.11.2021
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