Leserbrief zu einem Kommentarbeitrag von Michael Maier in der «Berliner Zeitung»
18. октября 2020 0 Автор Dr. Michael Reinhard HeßPD Dr. Michael Reinhard Heß
ist ein deutscher Turkologe und Forscher des aserbaidschanischen Dichters Imadeddin Nesimi
Ich teile hier einen Leserbrief, den ich gerade zu einem Kommentarbeitrag von Michael Maier in der «Berliner Zeitung» (16. Oktober 2020, Seite 3) abgeschickt habe.
Sehr geehrter Herr Maier,
Sie scheinen über Informationsquellen zu verfügen, die der Öffentlichkeit verschlossen sind. „Aserbaidschan hat mit Unterstützung der Türkei Armenien überfallen und will sich die autonome Region Berg-Karabach einverleiben“, schreiben Sie in Ihrem Kommentar „Stunde der Wahrheit“ in der Berliner Zeitung vom 16. Oktober 2020. Sie beziehen sich auf die seit Ende September in Aserbaidschan tobenden Kämpfe, bei denen es sich Ihrer Meinung nach um einen „mörderischen Angriffskrieg“ handelt.
Mit Ihrem Kommentar haben Sie das Kunststück vollbracht, in einer kurzen Spalte die „Wahrheit“ ziemlich exakt in ihr Gegenteil zu verkehren. Denn die Kämpfe finden ja auf aserbaidschanischem Territorium statt, und nicht in Armenien. Schon aus diesem Grund darf man nicht davon sprechen, dass Aserbaidschan Armenien „überfallen habe“. Aserbaidschan kann sich nicht selbst überfallen.
Berg-Karabach ist seit der frühen Sowjetzeit, seit den 1920er-Jahren, unbestritten ein Teil Aserbaidschans (und war bis zur massiven Ansiedlung von Armeniern durch die russischen Eroberer ab den späten 1820er-Jahren im Übrigen mehrheitlich muslimisch bzw. aserbaidschanisch besiedelt gewesen). Bis zum Ende der Sowjetunion haben alle sowjetischen Regierungen die rechtliche Zugehörigkeit der NKAO (Autonomen Region Berg-Karabach), um die es hier geht, zu Aserbaidschan beziehungsweise zur damaligen Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik, klar und eindeutig bestätigt. Aus diesem Grund hat sich Aserbaidschan auch niemals Berg-Karabach „einverleibt“, denn man kann sich nichts einverleiben, das schon fest in einem drin ist.
Unter Ausnutzung des Machtzerfalls der sowjetischen Zentrale haben armenische Truppen – übrigens unter Zuhilfenahme internationaler Terroristen wie Monte Melk´onian und unter Begehung einiger der fürchterlichsten Kriegsverbrechen der Nachkriegsgeschichte (Stichwort Xocalı) – in den frühen 1990er-Jahren Berg-Karabach mit Gewalt erobert und dort eine „Republik Artsakh“ etabliert, die von niemandem auf der Welt jemals anerkannt worden ist. Außerdem haben die Armenier gleich umfangreiche umliegende Territorien Aserbaidschans mitokkupiert. Alles zusammen machen diese Gebiete etwa ein Fünftel des Staatsgebiets der Republik Aserbaidschan aus. Unter anderem die Vereinten Nationen haben (in den Sicherheitsratsresolutionen Nr. 822, Nr. 853; Nr. 874 und Nr. 884 von 1993) die armenischen Eroberungen und Okkupationen für völkerrechtswidrig erklärt und den umgehenden Abzug der Eindringlinge verlangt. Wenn es um Berg-Karabach geht, hat somit keinesfalls Aserbaidschan einen „mörderischen Angriffskrieg“ durchgeführt, sondern Armenien und seine Helfershelfer.
Was mich an Ihrem Kommentar stört, ist nicht nur die kühne Erfindung und Verdrehung von Fakten, sondern auch Ihre grandiose und selbstsichere Einseitigkeit. Sie erwähnen die Vertreibung der Armenier aus Berg-Karabach – aber wussten Sie eigentlich, dass auch Zehntausende von Aserbaidschanern aus Berg-Karabach vertrieben worden sind, und zwar von Armeniern? Nach der letzten sowjetischen Volkszählung von 1989 gab es in der NKAO noch ungefähr 40.000 Aserbaidschaner, was etwa 20% der dortigen Bevölkerung entsprach. Heute gibt es, nach armenischen Angaben, gar keine Aserbaidschaner mehr in diesem Teil Aserbaidschans. Sie wurden vertrieben. Nach aserbaidschanischen Angaben sind seit den frühen 1990er Jahren aus den völkerrechtswidrig besetzten Teilen des Landes ungefähr eine Million Menschen vertrieben und zu Binnenflüchtlingen gemacht worden. Wo bleibt in Ihrem Kommentar diesbezüglich die moralische und journalistische Ausgewogenheit, das Prinzip, sich nicht von vorneherein auf eine Seite zu stellen, sondern das Geschehen auf allen Seiten nach denselben Standards zu bewerten?
In der Geschichte, die Sie – bewusst oder unbewusst auf einer medialen Welle mitreitend, die seit dem Wiederausbruch des Kriegs im September in den deutschen Mainstreammedien fast ausschließlich tonangebend ist – über den Berg-Karabach-Konflikt erzählen, ist der von Ihnen erfundene „Überfall“ Aserbaidschans auf „Armenien“ dann wenig überraschend auch das „letzte Kapitel“ des Völkermords an den Armeniern, nota bene des 1915 im Osmanischen Reich begonnenen (der, auch das wäre ein kurzes Wort wert, nur dank deutscher Waffenbrüderschaft stattfinden konnte und von uns Deutschen mindestens geduldet wurde). In dieser mit Grandezza entworfenen historischen Kontinuitätslinie beginnt der Genozid an den Armeniern 1915 und endet – niemals, sondern dauert seither an, bis auf seinen letzten Schauplatz Berg-Karabach. Er wurde also auch nicht durch die Gründung der Republiken Armenien und Aserbaidschan (1918), Türkei (1923) oder durch die Errichtung der Sowjetmacht im Kaukasus (1920) unterbrochen. Die Aserbaidschanische SSR, und damit indirekt auch das sowjetische Moskau, das ja die aserbaidschanische Position in Bezug auf Berg-Karabach bis zum Ende der Sowjetunion unterstützt hat, sowie die Republik Aserbaidschan haben Ihrer Darstellung nach also das Werk der Ittihadisten bewusst fortgeführt, um die Auslöschung des armenischen Volks zu betreiben. Zu diesem Ziel haben sich, Ihrer Darstellung nach, Aserbaidschan und die Türkei jetzt wieder zusammengetan. In dieser Darstellung kommt natürlich nicht vor, dass Armenier und Aserbaidschaner in der Sowjetzeit weitgehend friedlich in Berg-Karabach lebten und dass der Konflikt unter maßgeblicher Beteiligung Armeniens seit dem Ende der 1980er Jahre wieder bewusst angefacht wurde. Es kommt auch nicht die Frage danach vor, wem Berg-Karabach rechtlich gehört und wer es angegriffen und besetzt hat. Da Sie die Schuld praktischerweise eindeutig bei der „skrupellosen Führung“ Aserbaidschans und der Türkei entdeckt haben, müssen Sie natürlich auch keinen Gedanken daran verschwenden, wie skrupellos denn im Zweifelsfall die Verbündeten Armeniens, etwa Russland und der Iran, sind.
Sie weisen zu Recht auf das Leid der (mittlerweile nur noch armenischen) Bevölkerung Berg-Karabachs hin. Ich teile Ihren Wunsch, dieses Leid zu beenden, und ich fühle mit den dortigen Menschen mit. Aber ich fühle auch mit den Aserbaidschanern mit, die von Berg-Karabach aus beschossen worden sind, etwa durch Raketenbeschuss auf Aserbaidschans zweitgrößte Stadt Gәncә. Diese Opfer des aktuellen Konflikts spielen für Sie keine Rolle?
Am Ende Ihrer Einschätzung fordern Sie dann in kämpferischer Manier, die EU solle sich schleunigst aus ihrer bequemen Appeasement-Position zurückziehen, und erinnern an Chamberlain, womit Sie das von Ihnen in erschreckend einseitiger, verkürzender und voreingenommener Weise konstruierte antitürkische, antiaserbaidschanische Feindbild auch noch mit der Hitlerdiktatur vergleichen. Ging es nicht eine Nummer kleiner? Und: wäre etwas mehr „Appeasement“ (das Wort bedeutet seiner etymologischen Herkunft nach „in den Frieden bringen“) vielleicht doch eine Option, oder wenigstens etwas mehr Ausgewogenheit, statt vorschnell weitergereichter Vorurteile? Give peace a chance?
Ich erlaube mir Kopie dieses Briefes auf meiner Facebook-Seite („Michael Reinhard Heß“ zu veröffentlichen.
Mit freundlichen Grüßen
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