Dr. Vezirov: «Die Berichterstattung ist zum Bergkarabach-Konflikt seitens unserer Regierung hochgradig einseitig und diskriminierend.»
13. октября 2020 0 Автор F. MasimovaDr. Tarlan Vezirov
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
mein Name ist Tarlan Vezirov. Ich wurde in Baku/Aserbaidschan geboren und kam 1998 nach Deutschland. Ich bin hier zur Schule gegangen, habe Physik studiert und habe in diesem Fach promoviert. Als ehemaliger Physiker bin ich nicht religiös. Ich habe diesem Land sehr viel zu verdanken und liebe Deutschland ebenso wie ich mein Heimatland Aserbaidschan liebe. Jetzt führe ich ein ruhiges Leben und versuche jede freie Minute mit meiner Familie, insbesondere meinen zwei Kindern, zu verbringen. Ich mische mich nirgendwo ein und genieße meine Ruhe.
Doch nun möchte ich mich zu Wort melden, weil die Berichterstattung im Falle des Bergkarabach-Konflikts sowie seine Bewertung seitens unserer Regierung aus meiner Sicht hochgradig einseitig und diskriminierend ist. Sie führt zu Verbitterung und Entfremdung, Empörung und Trauer.
Bevor ich anfange, möchte ich explizit darauf hinweisen, dass die nachfolgenden Zeilen weder an die LINKE noch an die AFD und ihre Wähler gerichtet sind, weil die Position dieser Bevölkerungsgruppen aus meiner Sicht falsch, voreingenommen und stellenweise völkerrechtswidrig ist. Die beiden Parteien und ihre Wähler rechtfertigen das Verhalten Russlands in Georgien und der Ukraine, und daher ist es nur folgerichtig, dass sie der 30-jährigen Besetzung aserbaidschanischer Territorien durch Armenien mit Wohlwollen begegnen. Die Auslegung des internationalen Rechts nach eigenem Gusto ist verstörend, doch wenig überraschend für die Vertreter und Wähler der extremen Ausprägungen sowohl auf der linken wie auch der rechten Seite des politischen Spektrums.
Ich richte meine Worte an alle, die davon überzeugt sind, dass das internationale Recht, Verträge, UN Resolutionen eine Bedeutung haben und weiterhin haben sollten.
Ich richte meine Worte an alle, die gegen Diskriminierung, Rassismus und Militarismus eintreten und die Doktrin der Vergrößerung des eigenen Lebensraums auf Kosten von Nachbarn verurteilen.
Ich rufe jeden, der sich angesprochen fühlt, dazu auf, systematische Diskriminierung der Aserbaidschaner im Kontext des Bergkarabach-Konflikts seitens der Bundesregierung zu verurteilen. Der konkrete Anlass für meinen Aufruf ergab sich aus folgendem Sachverhalt:
„Maas hatte Aserbaidschan am Mittwoch aufgerufen, einer Waffenruhe zuzustimmen. Andernfalls müsse die EU den Druck auf das Land erhöhen.“ [1]
Nun frage ich Sie: Wer oder was gibt Herrn Maas oder der Bundesregierung das Recht, darüber zu entscheiden, was mit aserbaidschanischem Land passiert? Wo war Herr Maas und wo war die Bundesregierung, als knapp 20 % des aserbaidschanischen Staatsgebiets 30 Jahre lang unter der Kontrolle einer Besatzungsmacht standen und Aserbaidschan sich geduldig und friedfertig an Verhandlungen beteiligte? All diese Jahre hegte Aserbaidschan die Hoffnung, dass die Weltgemeinschaft Armenien dazu bringt, vier Resolutionen des UN-Sicherheitsrats aus dem Jahr 1993 Folge zu leisten und ihre Truppen abzuziehen? [2]
Wo war Heer Maas all diese Jahre? Was hat er dafür getan, um die Okkupation meines Heimatlandes zu beenden? Wo war die Bundesregierung? Und jetzt fordert man Baku auf, Gefechte zu beenden, um was zu tun? Weitere 30 Jahre aserbaidschanischen Boden unter dem Joch der Okkupanten zu belassen? Wenn die Bundesregierung so erpicht darauf ist, mit ihrer Appeasementpolitik dem Besatzer entgegenzukommen, dann sollte Herr Maas im Austausch für Karabach vielleicht Saarland oder Bayern den Armeniern anbieten? Empört sie dieser Gedanke? Nun ja, und warum soll Aserbaidschan sein, von allen Ländern dieser Welt anerkanntes, Staatsgebiet unter der Kontrolle der Besatzer lassen? Wie können Heer Maas, die Bundesregierung, die EU die Annexion von Krim, die gewaltsame Abspaltung des Donbass von der Ukraine und von Abchasien und Ossetien von Georgien „scharf verurteilen“ und gleichzeitig 30-jährige Okkupation meines Heimatlandes stillschweigend hinnehmen? Wieso darf die Bundesregierung die eigene Freiheit am Hindukusch verteidigen, wie der deutsche Verteidigungsminister Herr Struck das in 2004 formulierte, aber Aserbaidschan wird daran gehindert, sein eigenes Staatsgebiet von der Besatzungsmacht zu befreien?
Gestern ist Aserbaidschan als Zeichen des guten Willens, dem Wunsch der Weltgemeinschaft nachgekommen und erneut einer vorübergehenden Waffenruhe zugestimmt. Doch warum melden sich die „äußerst besorgten“ Politiker wie z. B. Herr Maas jetzt nicht zu Wort? Wieso fordern sie die Okkupanten nicht dazu auf, die Besatzung meines Heimatlandes friedlich zu beenden? Wieso wird eine de facto Okkupation Aserbaidschans durch Armenien von unserer Regierung legitimiert und zwischen dem Täter und dem Opfer kein Unterschied gemacht?
Ich kann es Ihnen sagen: Islamophobie und Antisemitismus sind in Europa auf dem Vormarsch. Wir leben in einer anderen Zeit und haben eine andere Kulisse, doch die Verse
„Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?
Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?
Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?“ (Shakespeare)
hatten vor 400 Jahren dieselbe Brisanz und Legitimität wie auch in unserer Zeit. Diese Zeilen waren Anfangsstationen einer Route, deren Endbahnhof Auschwitz war. Dieser Zug nimmt wieder Fahrt auf und hat bereits in Halle und Hanau halt gemacht und er wird nicht anhalten, wenn wir nicht lernen, jeden Menschen und jedes Land unabhängig von Religion, Rasse, Ethnie und Entwicklung nach gleichen Maßstäben zu messen und zu beurteilen. Gleich den Polizisten in Minneapolis hält die „zivilisierte Welt“ ihr Knie auf dem Hals von ganzen Nationen. Jede Ungerechtigkeit, jede Diskriminierung wird als Kampf zwischen gut und böse, zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen Islam und Christentum stilisiert.
Aber nein, bei dem Bergkarabach-Konflikt handelt es sich um eine, wie man das heutzutage sagen würde konterterroristiche Operation, bei welcher Aserbaidschan von einem terroristischen Besatzungsregime befreit wird. Aserbaidschan führt keinen Dschihad, obwohl unsere Medien es manchmal mit Passagen wie „Wir erhalten ihre Moscheen und sie zerstören unsere Kirche“ [3]
Religiöser Konflikt? Denis Pronin, aserbaidschanischer Staatsbürger und ein ethnischer Russe starb bei den jüngsten Kämpfen in Bergkarabach.
Würden Sie der Mutter dieses jungen Mannes sagen, dass er ein Islamist ist? Können sie sich die Beisetzungszeremonie eines Dschihadisten vorstellen, welche von einem Priester geleitet wird? Dieser junge Mann, der wie hunderte andere Freiwillige das größte Opfer gebracht und auf dem Schlachtfeld sein Leben gelassen hat, hat es weder für die Religion noch für das autoritäre Regime getan — er hat es einzig und allein für sein Land getan. Und die Erinnerung an solche Helden, die bereit waren, für ihr Land und für ihre Landsleute das Leben zu opfern, wird niemals verblassen. Doch das Blut aller Opfer dieses Konflikts, unser Blut, klebt an den Händen von solchen Politikern wie Herr Maas, die seit 30 Jahren es nicht geschafft oder nicht gewollt haben, den Truppenabzug, das Ende der Okkupation mit friedlichen Mitteln zu erzwingen. Zu verurteilen sind die Journalisten, die bewusst oder unbewusst sich von einer Verurteilung der Besetzung meines Heimatlandes distanzieren und somit durch ihre bestenfalls neutrale Haltung die Okkupation Aserbaidschans de facto befürworten.
Der vollständigkeitshalber will ich noch mal auf den Titel des oben bereits erwähnten Artikels der WELT eingehen, welcher exemplarisch die charakteristische Voreingenommenheit unserer Medienlandschaft veranschaulicht.
Hier sehen sie einige Beispiele dafür, wie die zerstörten Kirchen in Aserbaidschan aussehen (weitere schöne Beispiele können Sie selbst im Internet finden).
Hier sehen sie wie aserbaidschanische Moscheen auf okkupiertem Gebiet „erhalten“ bleiben.
Hier sehen den Präsidenten und die First Lady des Landes, das einen vermeintlichen Dschihad gegen christliche armenische Bevölkerung führt.
Ich verurteile alle Angriffe auf zivile Infrastruktur von beiden Seiten, aber sind sie wirklich der Meinung, dass die Beschädigung einer Kirche durch eine Rakete vor der Kulisse erbitterter Kämpfe, bei denen man zerstörte Wohngebäude, verletzte und tote Frauen und Kinder sieht, einer besonderen Akzentuierung bedurften? Wenn wir schon bei reißerischen Bildern sind, sollte man vielleicht auch Bilder aus zerbombten Städten in Aserbaidschan einfügen? Wobei streng genommen die Städte auf beiden Seiten des Konflikts aserbaidschanische Städte sind. Wenn sie sich das anschauen möchten, dann finden Sie diese Bilder unter [4], ich werde bewusst darauf verzichten diese Bilder hier einzufügen, weil sie nur das Symptom einer Krankheit sind, welche den Namen „Armenische Okkupation Bergkarabachs“ trägt.
Jeder Aserbaidschaner soll sich gegen diese Ungerechtigkeit auflehnen, weil es um euer Land, das Vermächtnis eurer Vorfahren und eure Würde geht.
Jeder Türke soll sich gegen diese Ungerechtigkeit auflehnen, weil wir eure Brüder sind und man uns Aserbaidschaner seit 30 Jahren ausbluten lässt.
Jeder Moslem soll sich gegen diese Ungerechtigkeit auflehnen, weil der Westen, die selbsternannte Weltpolizei, schon seit 30 Jahren zuschaut, wie unser Herz aus unserer Brust herausgerissen wurde, und will es weiterhin tun. Und warum? Weil wir Moslems sind. Nur deshalb wird der Bergkarabach-Konflikt aus dem Kontext der Konflikte auf dem postsowjetischen Raum ausgeklammert. Unser Land erstickt am Würgegriff der Weltpolizei, die vor Dschihad warnt, doch nur „Deus lo vult“ im Sinn hat.
Jeder Jude soll sich gegen diese Ungerechtigkeit auflehnen, weil ihr am besten wisst, wie es ist, wenn man aufgrund seiner Religion diskriminiert wird.
Jeder Deutsche, der schmerzlich an die Spaltung Deutschlands denkt, sollte sich auflehnen, weil 20 % unseres Landes seit 30 Jahren besetzt sind und es niemanden kümmert.
Jeder Mensch soll sich gegen diese Ungerechtigkeit auflehnen, weil
„Ein Heiliger sein ist die Ausnahme, ein Gerechter sein ist die Regel“ (Victor Hugo)
Ich rufe alle dazu auf friedlich zu protestieren und alles in ihrer Macht stehende zu tun, um dieser Ungerechtigkeit — der Okkupation Aserbaidschans ein Ende zu setzen.
Hochachtungsvoll,
Dr. Tarlan Vezirov
Quellen:
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