Wo kommt Artsach (Arzach) her?

By Dr. Michael Reinhard Heß Сен22,2021
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Dr. Michael Reinhard Heß

Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe. Thema der Habilitation waren Leben und Sprache des aserbaidschanischen Dichters İmadәddin Nәsimi (1370–1417).

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Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.

Die historische Bezeichnung „Artsach“ spielt bekanntlich im Kontext armenischer Ansprüche auf Berg-Karabach eine wichtige Rolle und taucht beispielsweise im Namen der untergegangenen separatistischen Pseudo-Republik auf.

Über den Namen, seine Bedeutung, Herkunft und Verwendung in ideologischen Auseinandersetzungen ist schon extrem viel geschrieben worden, der Großteil allerdings mit klar erkennbarem nicht-wissenschaftlichen Interesse.

In einem Post wie diesem ist es unmöglich, auch nur die wichtigsten etymologischen, historischen und methodologischen Probleme annähernd systematisch zu behandeln, die sich mit diesem Begriff verbinden, der im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten Kampfvokabeln der armenischen Seite wurde. Dennoch sind ein paar kurze Hintergrundinformationen unerlässlich.

Das Wort „Artsach“ (armenisch Արցախ Arc´ax) ist keine Erfindung, sondern tatsächlich ein Quellenbegriff. Auch wenn armenische und aserbaidschanische Historiker in vielen Aspekten die Geschichte der Region sehr unterschiedlich bewerten, besteht über die Faktizität des Worts unter ernstzunehmenden Autoren Einigkeit. Grosso modo Einigkeit herrscht auch darin, dass Artsach in der klassischen und späten Antike Name einer Region oder Provinz war, die geographisch entweder sehr nahe am späteren Karabach liegt oder sich mit ihr territorial deckte.

Uneinigkeit herrscht dagegen naturgemäß in der Bewertung der Geschichte. Armenische Historiker betonen, dass die Provinz Artsach für kurze Zeit zum antiken Armenien beziehungsweise Arsakidenstaat gehört habe, der Ende des 4. und Anfang des 5. Jahrhunderts aufhörte zu existieren und zwischen Rom und den Sassaniden aufgeteilt wurde. Dagegen wird von anderer Seite betont, dass die Provinz zu anderen Zeiten Teil des antiken Albaniens (Kaukasusalbanien, Aluank, Arran) war beziehungsweise im Laufe der Zeit unter andere Herrschaften kam. Spätestens im 8. Jahrhundert war das ehemalige Artsach dann Teil des islamischen Kalifats.

Unklarheit herrscht ferner in Bezug auf die Etymologie von „Artsach“. Augenscheinlich gibt es bis heute keine unumstrittene Herleitung. Weder aus dem Armenischen beziehungsweise den indoeuropäischen Sprachen noch aus den Turksprachen oder einer anderen Sprache kann das Wort zweifelsfrei hergeleitet werden. In einem Beitrag, in dem ich selbst einmal einige der etymologischen Vorschläge diskutiert habe (Heß 2018), bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Verbindung mit Lexemen in der antiken Sprache der Kaukasusalbanier beziehungsweise dem als deren Nachfolger geltenden Udinischen möglich sein könnte, dass es aber auch dafür keine sicheren Beweise gibt.

An dieser Stelle soll der kurze Exkurs über die früheste Herkunft des Begriffs „Artsach“ beendet sein. Wie gesagt, so gut wie jedes einzelne Detail der Geschichte dieses Begriffs und seiner Verwendung bis zum Ende der Spätantike ist heftig umstritten, und eine auch nur einigermaßen systematische Annäherung an das Thema würde ohne Weiteres ein paar Dutzend Seiten oder ein kleines Buch erfordern.

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Unter Hinweis auf die Existenz des geographisch-administrativen Begriffs „Artsach“/ Արցախ Arc´ax) in der Antike beanspruchen armenische Nationalisten bis heute die als Berg-Karabach bekannten Teile Aserbaidschans (oft zusammen mit weiteren Territorien). Eines der häufigsten argumentativen Muster, mit denen diese territorialen und politischen Ansprüche vorgetragen werden, ist das der historischen Anteriorität in Verbindung mit dem Behaupten einer historischen Kontinuität von der (Spät-)Antike bis heute. Anteriorität bedeutet, dass die Armenier früher in Artsach gewesen seien als andere Völker (insbesondere Araber, Türken, Mongolen und islamisierte Iraner). Mit der Begründung, dass die Armenier früher als alle anderen dort gewesen seien, wird dann gesagt, dass das Gebiet ihnen gehöre. Kontinuität bedeutet, dass man behauptet, es habe von einem antiken armenischen Artsach (meistens bis heute) eine ununterbrochene Verbindung gegeben (die dann verschieden ausgemalt wird: administrativ-politisch, demographisch, linguistisch-kulturell usw.).

Zum Argument der Anteriorität könnte man anmerken, dass selbst die extremsten armenischen Historiker nicht behaupten können, dass das betreffende Gebiet immer armenisch war. Es gab nachweislich eine Zeit, als die ganze Gegend Teil des Achämeniden-, Alexander- und Seleukidenreichs war, von noch früheren Epochen ganz zu schweigen. Wenn Anteriorität ein Argument und kein Scheinargument sein soll, muss man vor dem Beginn armenischer Herrschaft in der Gegend liegende Epochen ebenso einbeziehen wie armenische Phasen der Geschichte. Man könnte dann beispielsweise behaupten, dass Karabach zu Griechenland oder Makedonien gehöre, weil dort einstmals Griechen oder Makedonen herrschten. Solche Gedankengänge sind wohl aber in keiner der verbreiteten armenischen Darstellung der antiken Geschichte Artsachs vorhanden. Es ist daher davon auszugehen, dass die Behauptung der (armenischen) Anteriorität nur vorgeschoben und nicht weiter ernstzunehmen ist.

Was die Kontinuität des antiken Artsachs bis heute betrifft, so ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass hierbei von der Kontinuität einer geographischen beziehungsweise administrativen Bezeichnung die Rede ist (was etwas anderes ist als von der Kontinuität in Bereichen wie Religion, Sprache, Kultur, Demographie, oder genetische Herkunft zu sprechen – all diese Bereiche würden umfangreiche gesonderte Betrachtungen notwendig machen und müssen daher hier auch ausgeklammert werden). Die Anhänger der „Artsachisierung“ (Berg-)Karabachs gehen ja davon aus, dass dieser Begriff als Name der Gegend und/oder als politisch-administrativer Terminus über die Zeit der Spätantike hinaus verwendet worden beziehungsweise bis heute erhalten geblieben sei.

Von einer direkten Kontinuität von „Artsach“ im Sinne eines armenischen Provinz- oder Gebietsnamens zu sprechen, dürfte nun allerdings schon aus dem Grund unmöglich sein, dass es zwischen 1375 (das Jahr markiert den Untergang des letzten armenischen Staates des Mittelalters, des Königreichs von Kilikien) und der Gründung der Ararat-Republik (1918) nirgendwo auf der Welt einen armenischen Staat gab. Wenn, wie oft behauptet, „Artsach“ der Name einer „armenischen Provinz“ gewesen sein soll, dann kann dies nicht auf die Zeit zwischen 1375 und 1918 zutreffen, denn eine armenische Provinz kann es nur geben, wo es ein Armenien gibt.

Bleibt übrig, in der gegebenen Periode (1375-1918) nach der Verwendung des Terminus „Artsach“ in anderen politisch-administrativen Bedeutungen als etwa im Sinne einer Provinz eines armenischen Staates zu suchen. Um die Ansicht der armenischen Nationalisten, die für die Einführung des Terminus „Artsach“ statt „Karabach“ oder „Berg-Karabach“ plädierten, zu rechtfertigen, hätte „Artsach“ zumindest als lokale Selbstbezeichnung der armenischen Bevölkerung (Berg-)Karabachs in der genannten Periode verwendet werden müssen, auch ohne formale Bezeichnung einer Provinz zu sein.

Aber hat es eine solche Verwendung von „Artsach“ zwischen 1375 und 1918 wirklich gegeben?

Armenische und aserbaidschanische Historiker sind sich einig, dass sich ungefähr ab dem 13. oder 14. Jahrhundert, also in der Periode der mongolischen Invasionen, die Bezeichnung „Karabach“ (aserbaidschanisch: Qarabağ) durchzusetzen begann, wobei der Name „Artsach“ noch für eine Weile weiterverwendet worden sei. Der armenische Autor Gerayer Koutcharian und die aserbaidschanische Historikerin Fәridә Mәmmәdova gehen beispielsweise übereinstimmend davon aus, dass beide Bezeichnungen im 14. Jahrhundert parallel existierten (Koutcharian 1993: 95; Mamedova 1995: 110). Im Laufe der Zeit setzte sich der Begriff „Karabach“ immer mehr durch, während „Artsach“ in Vergessenheit geriet. Spätestens ab dem Ende des 17. Jahrhunderts taucht „Artsach“, möglicherweise außerhalb einiger armenischer Quellen, als administrativ-politischer oder geographischer Name offenbar praktisch gar nicht mehr auf.

Es kommt beispielsweise nicht im Reisebericht von Adam Olearius (1599-1671) auf, der in den 1630er-Jahren Aserbaidschan bereiste. Vielmehr verwendet Olearius den historischen Namen Kaukasusalbaniens (Arran, bei ihm „Iran“) und „Karabach“. So heißt es bei ihm unter der Überschrift IRAN oder KARABACH:

„IRAN, welches die meisten/ sonderlich die gemeinen Leute/ Karabach nennen/ist die Landschafft/ so zwischen den zweyen edeln Stroemen Araxes und Cyrus, jetzo Aras und Kuer genandt/ gelegen/ und begreifft in sich ein Theil von Armenien/so sie Arminieh, und Georgia/so sie Gurtz nennen/ist ein sehr fruchtbar Land/sonderlich von Seide/[…]“ (Olearius 1663: 541).

Praktisch deckungsgleich ist die Verwendung der geographischen Bezeichnungen im aus derselben Periode stammenden Werks des geographischen Geographen und Königssohns georg.ვახუშტიVaxušt´i (1696-1757). In seinem 1745 fertiggestellten Atlas ist von „Rani, [das] aber jetzt Karabach [heißt]“ (რანი, ხოლო აწ ყარაბაღი Rani, xolo ac Qarabaġi) die Rede (UNESCO/ Ministry of Justice of Georgia/ National Archives of Georgia 2018: 62). რანი Rani ist nichts anderes als die georgische Wiedergabe des antiken Namens Kaukasusalbaniens, (Ar-)Ran. Beide Quellen illustrieren, dass an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert das, was heute Karabach genannt wird, schon in erster Linie als „Karabach“ bekannt war, während man sich noch an die frühere Bezeichnung „Arran“ erinnerte – dagegen offenbar nicht an „Artsach“.

Um die Darstellung etwas abzukürzen, sei hier die restliche Zeit der Safawidenherrschaft (bis 1722 beziehungsweise 1736), der kurzfristigen osmanischen Herrschaft, des historischen Intermezzos Nader Schahs (1736-1747), des Khanats Karabach (1747-1822) und der zaristischen Herrschaft (1822-1918) nur summarisch abgehanelt. In keiner dieser Perioden taucht der Name „Artsach“ als Bezeichnung einer Provinz (eyalet, bәylәrbәylik, oblast´) oder eines Bezirks (mahal, uezd) auf. Es war auch nicht Name eines der fünf Meliktümer Karabachs, die kurz vor der Mitte des 18. Jahrhunderts kurzfristig unter Nader Schahs Ägide zur „Fünferherrschaft“ (Xәmsә) zusammengefasst waren und die von proarmenischen Historikern manchmal als Keimzelle eines armenischen Unabhängigkeitsbestrebens in Karabach hingestellt werden.

Nicht einmal in der Periode nach der synchronen Gründung der beiden Republiken Armenien und Aserbaidschan (28. Mai 1918), als der Begriff „Berg-Karabach“ (Nagorno-Karabach) in den Quellen aufzutauchen beginnt und sich die politischen Ansprüche beider Republiken zunächst in grausame militärische Auseinandersetzungen und wechselseitige Massaker und schließlich, unter sowjetischer Herrschaft (in Aserbaidschan ab April 1920, in Armenien ab November/ Dezember 1920), in ein erbarmungsloses politisches Intrigen- und Schachspiel der Sowjet-Aserbaidschaner gegen die Sowjet-Armenier verwandeln, scheint die Vokabel „Artsach“ irgendwo in politischen Dokumenten eine signifikante Rolle gespielt zu haben. Stattdessen ist praktisch in allen Dokumenten der Zeit nur von „Karabach“ beziehungsweise „Berg-Karabach“ die Rede.

So veröffentlichte auf dem Höhepunkt der vor und hinter den Kulissen zwischen sowjetischen Armeniern und Aserbaidschanern tobenden gnadenlosen politischen Schlacht um Berg-Karabach der Rat der Volkskommissare (Sovet narodnych komissarov) der Armenischen Sowjetischen Sozialistischen Repbublik am 12. Juni 1921 eine Erklärung, mit der er Berg-Karabach als untrennbaren Teil dieser Sowjetrepublik beanspruchte (siehe Ṭarābik 2014: 83; Avakian 2021 [2005]: 7; Nazimoglu 2021 [2020]; Prezident Kitabxanası 2021: 41.). Diese Erklärung wurde vom Vorsitzenden des Armenischen Revolutionskomitees, Ալեքսանդր Մյասնիկյան Alek´sandr Myasnikyan (=Aleksandr Fjodorovič Mjasnikjan oder Aleksandr Fjodorovič Mjasnikov, 1886-1925) und seinem Sekretär Karabekjan unterzeichnet. In dem Dokument heißt es auf Russisch Na osnovanija deklaracii Revkoma Socialističeskoj Sovetskoj Respubliki Azerbajdžana i soglašenija meždu pravitel´stvami Sovetskich Socialističeskich Respublik Armenii i Azerbajdžana objavljaetsja, čto Nagornyj Karabakh otnyne javljaetsja neotemlennoj čast´ju Socialističeskoj Sovetskoj Respubliki Armenii. (zitiert in: Mikaeljan et al. 1992: 636; im Unterschriftenbereich der Erklärung ist der Name Ալ. Մարտունի/Al. Martuni in Klammern zu Myasnikyans Namen hinzugefügt).

„Auf Basis der Erklärung des Revolutionskomitees der Sozialistischen Republiken Aserbaidschans und der Übereinkunft zwischen den Regierung der Sozialistischen Sowjetregierungen Armeniens und Aserbaidschans wird erklärt, dass von jetzt an Nagorno-Karabach ein untrennbarer Teil der Sozialistischen Sowjetrepublik Armenien ist.“

Zusammen mit der oben zitierten russischen Fassung der Erklärung hat der armenische Herausgeber der Quelle auch noch eine armenische Version veröffentlicht. In ihr entspricht dem Ausdruck Nagornyj Karabach (Berg-Karabach) der russischen Fassung die armenische Bezeichnung Լեռնային Ղարաբաղ Lēṙnayin Łarabaƚ „Berg-Karabakh” (Mikaeljan et al. 1992: 636), in der der erste Bestandteil das armenische Wort für „bergig, gebirgig“ ist und der zweite, Ղարաբաղ Łarabaƚ, eine phonetische Wiedergabe des turksprachigen Terminus Qarabağ. Also nicht einmal in diesem Text, der in vielfacher Hinsicht als eine der wichtigsten Dokumente des armenischen Separatismus in Karabach angesehen werden kann, verwenden die Separatisten selber für das von ihnen beanspruchte Territorium die Bezeichnung „Artsach“, sondern, wie jedermann sonst auch in jener Zeit, „Nagorno-Karabach“.

Wo kommt heute also auf einmal Artsach her? Wenn dieses antike Wort, das seit dem 14. Jahrhundert in Konkurrenz mit dem Wort „Karabach“ verwendet worden war und immer mehr seine Bedeutung verlor, bis es spätestens um 1700 vollkommen aus der lokalen politisch-administrativen Terminologie verschwunden zu sein schien, drei Jahre nach dem Beginn der separatistischen Bewegungen in Karabach (1918) nicht einmal in einem der wichtigsten politischen Dokumente auftaucht, mit dem die Separatisten selber ihre Abspaltungstendenzen begründen, wie kommt es dann, dass bis heute immer noch davon geredet wird, „Artsach“ sei die „Eigenbezeichnung“ der Armenier von Karabach beziehungsweise sei es immer schon gewesen?

Es wird noch detaillierterer Forschungen – insbesondere zur in weiten Teilen von politisch-ideologischer Voreingenommenheit korrumpierten sowjetarmenischen Archäologen-, Historiker- und Linguistenzunft – bedürften, um genau zu rekonstruieren, in welchen Etappen und von wem der bereits seit dem Hochmittelalter weitgehend untergegangene Terminus „Artsach“ wieder ausgegraben und als politisch-ideologischer Kampfbegriff so erfolgreich wiederbelebt wurde, dass er am Ende der 1980er Jahre nicht nur in der Literatur der armenischen Separatisten, sondern auch von zahlreichen ihrer Sympathisanten im russischen und nicht-russischen Ausland weitestgehend unkritisch übernommen, reproduziert und als ,Argumentʻ gegen die aserbaidschanische Seite eingesetzt werden konnte. Als Arbeitshypothese kann man für derartige Forschungen formulieren, dass angesichts des Fehlens von „Artsach“ in der Erklärung vom 12. Juni 1921 wahrscheinlich sein dürfte, dass der Begriff erst nach diesem Datum allmählich in den Diskurs eingeführt worden ist.

Aber schon jetzt scheint sich abzuzeichnen, dass es sich bei der Inanspruchnahme von „Artsach“ vielfach um einen rhetorischen Trick handelt. Die unbestreitbare Tatsache, dass die Verwendung des Ausdrucks als territoriale beziehungsweise administrativ-politische Bezeichnung bis in die Antike zurückreicht, sowie dass das dazugehörige Gebiet in der Antike phasenweise unter armenischer Herrschaft gestanden hat, wird vor dem Hintergrund der heutigen Verwendung des Wortes „Artsach“ als separatistischer Kampfbegriff so präsentiert, dass uninformierte Betrachter automatisch davon ausgehen müssen, dass die heutige (separatistisch-ideologische) Verwendung des Worts direkt auf antike Verwendungen zurückgeht. Dabei bleiben die Jahrhunderte, in denen der Terminus „Artsach“ praktisch aus der politisch-administrativen Terminologie verschwunden war, vollkommen unbeleuchtet, und der ideologische Charakter der Neusemantisierung von „Artsach“ im 20. Jahrhundert wird unkenntlich gemacht, da ja der Anschein erweckt wird, der Begriff existiere seit der Spätantike in ununterbrochener Kontinuität. So kann ein Bild der Geschichte Aserbaidschans und Karabachs entstehen, in dem „Artsach“ und die diesem zugeschriebene armenische Identitätszuschreibung ununterbrochen existieren und in dem die turksprachigen Aserbaidschaner, ebenso wie alle anderen Völker, die die Gegend neben den Armeniern noch besiedelt haben und besiedeln, einfach komplett negiert werden.

Die Theorie der „Artsachisten“ wäre nur dann stichhaltig, wenn dokumentiert werden könnte, dass auch für die Zeit vom Spätmittelalter bis zum Beginn der Sowjetherrschaft (ca. 1375 bis 1920), „Artsach“ als politisch-administrative Bezeichnung im heutigen (Berg-)Karabach fest etabliert war. In der genannten Periode scheint das Wort aber in der politisch-administrativen Terminologie zumindest in deutscher, georgischer, aserbaidschanischer, neupersischer und russischer Sprache keine Rolle zu spielen, und nicht einmal den armenischen Vorkämpfern des armenischen Separatismus selbst scheint er zu Beginn der Sowjetzeit hinreichend geläufig zu sein.

Zitierte Literatur

Avakian 2021 [2005]. Avakian, Shahen: Nagorno-Karabagh. Legal Aspects. Https://www.deutscharmenischegesellschaft.de/wp-content/uploads/2010/05/SHAHEN-AVAKIAN-Nagorno-Karabakh-Legal-Aspects-2005.pdf [downgeloaded am 5. April 2021].

Heß 2018. Michael Reinhard Heß: Krieg im Garten Eden: Hintergründe zum Nagorno-Karabach-Konflikt. In: Heß, Michael Reinhard/ Weiberg, Thomas (Hgg.): Blätter aus dem Rosengarten. Beiträge zum deutsch-türkischen Kulturaustausch. Berlin: Edition orient-al. 367-411.

Koutcharian 1993. Koutcharian, Gerayer: Armenien 1915, Arzach 1992. In: Hakobian, Hravard et al.: Armenisches Berg-Karabach/ Arzach im Überlebenskampf. Christliche Kunst – Kultur – Geschichte. Richter, Manfred (Hg.). Berlin: Edition Hentrich. 93-97.

Mamedova 1995. Mamedova, Farida [= Mәmmәdova, Fәridә]: Ursachen und Folgen des Karabach-Problems. Eine historische Untersuchung. In: Halbach, Uwe/ Kappeler, Andreas (Hgg.): Krisenherd Kaukasus. Baden-Baden: Nomos. 110-127.

Mikaeljan et al. 1992. Mikaeljan, Vardges A. et al.: Nagornyj Karabach v 1918-1923 gg. Sbornik dokumentov i materialov. Erevan: Izdatel´stvo AN Armenii.

Nazimoglu 2021 [2020].

Nazimoglu, Natig: Rešenie o sozdanii NKAO kak fundament dlja razgula armjanskogo separatizma – ISTORIČESKIY ĖKSKURS + FOTO. [Text aus dem Nachrichtenportal aqreqator.az, datiert auf den 7. Juli 2020]. Https://aqreqator.az/ru/politika/876350 [besucht am 31. Mai 2021].

Olearius 1663. Olearius, Adam: Adam Olearii Außführliche Beschreibung Der Kundbaren Reyse Nach Muscow und Persien […]. Schleßwig: Holwein. http://diglib.hab.de/wdb.php?dir=drucke/xb-4f-140&pointer=0 [Faksimile, besucht am 29. April 2021].

Prezident Kitabxanası 2021. Azәrbaycan Respublikası Prezidentinin İşlәr İdarәsi Prezident Kitabxanası: Ermәnistan-Azәrbayan münaqişәsi [Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan]. Https://files.preslib.az/site/karabakh/gl1.pdf [besucht am 3. Mai 2021].

Ṭarābik 2014. Ṭarābik, Aḥmad ʿAbdoh: Ḳarabāġ. Ṭarīḳ as-salām fī al-Ḳavkāz [Karabach: Der Weg zum Frieden im Kaukasus]. Kairo: An-nubalāʾ li-abdāʿ at-taḳāfī.

UNESCO/ Ministry of Justice of Georgia/ National Archives of Georgia 2018.

UNESCO/ Ministry of Justice of Georgia/ National Archives of Georgia: The UNESCO Memory of the World Register. The Manuscripts Preserved in the National Archives of Georgia. Tbilisi: UNESCO, Ministry of Justice of Georgia, National Archives of Georgia. Https://archive.gov.ge/en/sametsniero-publikatsiebi/unesco-s-msoflio-mekhsierebis-reestri-sakartvelos-erovnul-arkivshi-datsuli-khelnatserebi-1 [besucht am 14. September 2021].

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Die Illustration zeigt den Khanspalast von Schuscha, der historischen Hauptstadt Karabachs, in einer Aufnahme vom August 2021. Mein Dank für die Erlaubnis der Verwendung der Aufnahme geht an meinen Freund Dr. Ahmed Abdoh Tarabik.
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