Prof. Dr. Wilfried Fuhrmann: Friede und Kooperation im Kaukasus?

By Prof. Dr. Wilfried Fuhrmann Янв 23, 2021
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Titelbild: kremlin.ru
Prof. Dr. Wilfried Fuhrmann

Prof. Dr. Wilfried Fuhrmann

ist seit April 1995 Professor an der Universität Potsdam, WiSo-Fakultät, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie, insb. Makroökonomische Theorie und Politik.

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1.     Zum Format der Verhandlungen

Zwei Monate nach dem Waffenstillstand blühen in Aserbaidschan die Hoffnungen und Erwartungen auf einen „ewigen“ Frieden im Südkaukasus.

Der Krieg hat die völkerrechtlichen Grenzen quasi zurückbewegt auf jene, die zum Zeitpunkt der Stunde null bzw. zum Ende der UdSSR bestanden. Viele betrachten das Ergebnis des Krieges als eine Art von finaler Lösung, die jetzt „nur noch“ in Detail politisch ausgehandelt und institutionalisiert werden muß.

Eine Diskussion über die Plattform bzw. das Format der Verhandlungen, d.h. über die Verhandlungsteilnehmer erfolgt bereits. Unstrittig dürften die Teilnahme von Aserbaidschan und Armenien sowie der Russ. Föderation sein – also ein Format 2 + 1.

Aufgrund der Fakten und besonderen Bedeutung für die Großregion dürfte die Türkei ein weiterer Teilnehmer sein, so dass sich das Format auf 2 + 2 erweitert. Dabei liegt eine der vorbereitenden Aktivitäten (im 2 + 1 Format) darin, dass Armenien der Teilnahme der Türkei zustimmt – gegebenenfalls unter Bedingungen, wie der Öffnung der Grenzen zwischen Armenien und der Türkei. Darüber wird aber ebenso wie über die Beendigung der aserbaidschanischen Politik der Isolation Armeniens bereits als Teil des Friedensvertrages eine Einigung relativ schnell möglich sein.

Die Chance für einen umfassenden Friedensvertrag für die Region ist jetzt größer als je, denn zuvor scheiterte jede diesbezügliche Initiative an der aserbaidschanischen Vorbedingung: Die Freigabe bzw. Räumung aller besetzten Gebiete durch Armenien. Armenien hatte es stets abgelehnt und damit alle Initiativen zum Scheitern gebracht. Offen ist jetzt allerdings, ob Armenien die Übergabe dieser Gebiete an Aserbaidschan mittel- bis langfristig akzeptiert oder ob es versuchen wird, sie mit militärischer Gewalt wieder zu erobern.  Entscheidend dafür werden sein erstens: Entwicklungen in der Gesellschaft aller Armenier (siehe 3.) und zweitens: die Vorteile und Gewinne, die sie aus einem Friedensvertrag mit den jetzigen Grenzen erwarten.

2.     Umfang der Verhandlungen

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Die größten Vorteile sind zu erwarten, wenn dieser „Friedensvertrag“ u.a. auch eine ökonomische Zusammenarbeit beinhaltet und damit eine Integration zumindest in den Bereichen Handel und Produktion bei einem koordinierten Aufbau der Infrastruktur (zumindest Straße, Schiene, Pipelines und Luft): Die ökonomische Lokomotive wird Aserbaidschan sein. Es hat in den befreiten Distrikten und in Berg-Karabach gewaltige Investitionen zu tätigen und damit viele Aufträge zu vergeben, die in den beteiligten Ländern jeweils Einkommen schaffen, Investitionen anregen und damit ökonomisches Wachstum schaffen. Zu diesen Investitionen gehört auch die Neugestaltung der transkaukasischen Infrastruktur. Ein derartiger Neuaufbau insbesondere in Verbindung mit einer transkaukasischen ökonomischen Kooperation erfordert die Leistungsstärke und Verantwortungsbereitschaft Aserbaidschans. Und es stellt Armenien vor die Entscheidung zwischen Wachstum und steigender Wohlfahrt oder (den Weckruf überhörend) Isolation und erneutem Krieg in Zukunft.

Im Rückblick auf die Ideen von Präsident Heydar Alijev und seine Initiative von 1999 (auf dem OSZE-Gipfel) sind jetzt möglicherweise auch an Koordinations- und Schlichtungsstellen in Fragen der Sicherheit, der Lösung von Konflikten und Konfrontationen oder auch der demokratischen Entwicklung zu denken und ggfs. im Zeitablauf in das Vertragswerk einzubeziehen. Diese weiteren Politikfelder erfordert Zeit und Vertrauen bis zu einer Verständigung, so daß es sinnvoll erscheint, ähnlich wie beim Integrationsprozeß in Europa nach dem Krieg auch bei einer zukünftigen Kooperation mit der Wirtschaft voranzugehen. Die schrittweise vertiefte ökonomische Zusammenarbeit ist die Lokomotive, an die später möglicherweise auf jedem Bahnhof bzw. auf jedem erreichten ökonomischen Integrationsstadium ein neuer Wagon bzw. eine weitere Kooperationsebene aufgenommen wird. Dieses kann bereits im gegenwärtigen auszuhandelnden Friedensvertrag oder in einer gemeinsamen Absichtserklärung zum Ausdruck gebracht werden.

Darüber hinaus werden die Vorteile wahrscheinlich umso größer sein, je mehr Länder an diesem Vertragssystem beteiligt sind. Derart würde letztlich Georgien mit einbezogen, wobei diese „Erweiterung“ im ökonomischen Bereich am einfachsten erscheint, da schon viele ökonomische Verflechtungen zwischen bspw. Aserbaidschan und Georgien bestehen. Es ergibt sich rechnerisch unmittelbar das Format 3 + 2.  Allerdings sind bei dieser Erweiterung vor einem südkaukasischen Friedensvertrag bzw. Vertragswerk die Grenzstreitigkeiten zwischen Armenien und Georgien endgültig auszuräumen. Diese immer wieder seitens Armeniens aufflammenden Streitigkeiten zeigen, dass Armenien auch die völkerrechtlichen Grenzen mit Georgien in Frage stellt. Zugleich ist zu erwarten, dass Georgien wegen mehrerer bestehender Grenzstreitigkeiten die Erweiterung des Formats um die USA fordern wird. Es ergäbe sich dann eine Verhandlungsrunde: 3 + 3.

Aufgrund der starken Parteilichkeit Frankreichs zugunsten der (Diaspora-) Armenier ist eine Erweiterung um die EU, d.h. faktisch um Frankreich anstelle der USA wenig förderlich. Dabei werden die USA ebenso wie die EU aufgrund ihrer geopolitischen Eigeninteressen wahrscheinlich den Verhandlungsprozeß eher erschweren oder gar destabilisieren.

Alle bisherigen Vorschläge bedeuten nicht, dass nicht einzelne Fragen – wie bspw. die der Grenze zwischen Georgien und Armenien — in bilateralen Gesprächen/Verhandlungen geklärt werden können und dann in die größere Verhandlungsrunde eingebracht werden können. Die vertragliche Festschreibung der Grenzen im Südkaukasus sollte möglichst von den drei Republiken bzw. ohne weitere geopolitische Interessen Dritter final geklärt werden. Sollte dabei ein „neutraler“ Dritter ohne eigene geopolitische Interessen notwendig werden, dann erscheinen Staaten wie Japan oder Südkorea geeignet, so dass es zum Format 3 + 2 (+ 1) kommen kann. 

Der Anreiz für die kooperative Lösung sind die dann zu erwartenden (maximalen) Wohlfahrtsgewinne. Die größte Unsicherheit bei der Strategiewahl in den „internen“ Bemühungen um eine “Pax Trans-Caucasia“ liegt in der bereits oben erwähnten zukünftigen Entwicklung der Gesellschaft aller Armenier. 

Von besonderer Bedeutung ist aber noch, dass aufgrund der geographischen Lage des Kaukasus und der geschichtlichen Erfahrungen, wie bspw. den Teilungen Aserbaidschans durch das zaristische Rußland und Persien bzw. den Iran (Frieden von Gülüstan 1813 u. Türkmentschaj 1828), alle Nachbarländer zu beteiligen sind. Dieses ist nicht nur für die Sicherung der Außengrenzen der Region Transkaukasien sinnvoll, sondern zugleich auch für die Optimierung der internationalen Anbindungen der neu zu gestaltenden Infrastruktur von Transkaukasien. Dann ist neben Rußland und der Türkei auch der Iran mit einzubeziehen. Damit wird das Format sinnvollerweise 3 + 3 (+ 1).

Eine analytische Betrachtung der besonderen Entwicklungen von Berg-Karabach, wahrscheinlich ausgehend von den noch in der OSZE-Minsk-Gruppe andiskutierten institutionellen Gestaltungsmöglichkeiten einer Autonomie, ist Teil der Verhandlungen. Dazu gehören Fragen der politischen, aber auch institutionellen und kulturellen Gestaltung des Raumes Schuscha und der ganzen Region Berg-Karabach. Dieses ist der Schluß- oder Krönungsstein des Vertragswerkes. Natürlich wird Schuscha als eine Wurzel der Region eine starke Kraft Transkaukasiens sein. Dieses und die herausgehobene geographische Höhenlage sollten hier zu einer aserbaidschanischen Sonderzone der Kultur und Forschung mit internationaler Beteiligung (einschl. ausländischer Investitionen) führen. Die Komplexität der dafür notwendigen Rahmenbedingungen erfordert eine weitere besondere Analyse.

      3. Armenien mit der größten Unsicherheit

      3.a. – vor dem Waffenstillstand

Zuvor aber sind mögliche Entwicklungen in Armenien und „der Armenier“ zu analysieren.

Der Premierminister von Armenien Nikol Paschinjan saß in einer Falle, als er den am 27. September 2020 ausbrechenden Krieg zur Befreiung der besetzten aserbaidschanischen Territorien nicht verhindert hatte und wahrscheinlich auch nicht verhindern wollte.

Das primäre Ziel seiner Politik war es nicht, Tote und Verletzte per se zu vermeiden und alleine schon dadurch das Wohl des armenischen Volkes zu wahren und zu mehren. Das hätte er unmittelbar erreichen können, hätte er am 27. September die bedingungslose Rückgabe der völkerrechtswidrig besetzten aserbaidschanischen Territorien erklärt. Er hätte außerdem scheinbar jederzeit das vom aserbaidschanischen Staatspräsidenten Ilham Alijev öffentlich erklärte Waffenstillstandsangebot annehmen können und damit weitere Tote und Verletzte verhindern können. Stattdessen ließ er zu, daß völkerrechtswidrig und ohne Kriegserklärung von armenischem Boden aus Orte in Aserbaidschan bombardiert und beschossen wurden – und damit viele Menschen getötet und verletzten wurden. 

Aber hätte er es entgegen den Eliten aus Militär, Kirche und evtl. Wissenschaft sowie den politischen Verhältnissen wirklich gekonnt?

Unter seiner Regierung wurde derart getötet, um Aserbaidschan zu provozieren, Armenien direkt zu beschießen, um so den Bündnisfall mit dem Eingreifen Rußlands zugunsten Armeniens und eine Begründung für das Eingreifen Frankreichs zu schaffen. Und er ließ kämpfen, weil auch er lange offenbar an den selbstgeschaffenen Mythos der sicheren Überlegenheit der armenischen Armee glaubte und in einer derartigen nationalistischen Cloud lebte. 

Armenien hat den Krieg primär aus zwei Gründen verloren: erstens aufgrund seines eigenen Realitätsverlustes, d.h. aufgrund des Realitätsverlustes seiner politischen und militärischen Eliten und zweitens aufgrund der starken Disziplin sowie gefestigten und besonnenen Motivation der aserbaidschanischen Armee vom Oberkommandierenden bis hin zum „einfachen“ Soldaten.  Die Besonnenheit und Verinnerlichung der Motivation sind im Laufe der 27 Jahre entstanden, während der Aserbaidschan auf das Völkerrecht und die internationale Staatengemeinschaft nach dem in Berg-Karabach erlittenen Genozid hoffte.

Die Politik war zum Waffenstillstand angesichts der zu erkennenden bevorstehenden vollkommenen Niederlage viel zu spät entschlossen. Da war dann die materielle Basis der Armee bereits zu rd. 80 % zerstört und viele Einheiten hatten nicht mehr die erforderliche Personalstärke. Die kommandierenden Militärs in Berg-Karabach und Armenien hatten Tage vorher (aber 40 Tage zu spät) bereits darauf hingewiesen und politische Maßnahmen gefordert. Die Politiker aber liefen (in ihrer Mehrheit) gefangen in der Cloud weiter und die Politik war trotz der eingetretenen Situation nicht in der Lage, den jahrelang nationalisierten Fanatikern und Parteien die Realität zu vermitteln.

Und hierin liegt auch eine große Gefahr für den Friedensprozeß für den Südkaukasus bzw. für eine Pax Trans-Caucasia.

       3.b. — nach dem Waffenstillstand

Diese Cloud kann als das armenische Sozial-Kapital („social-capital“) verstanden werden. Es stellt die Gesamtheit der ein Volk verbindenden, d.h. gemeinsamen Eigenschaften, Fähigkeiten und Vorstellungen dar. Es sollen hier nur zwei Kernbereiche dieses Sozialvermögens betrachtet werden. 

       3.b.1.  Zum Sozialkapital   — die Schrift

Zum ersten Kernbereich gehören primär u.a. die gemeinsame nationale Sprache sowie Schrift und damit die umfassende Fähigkeit sowie Möglichkeit der Kommunikation. Ohne eine erst dadurch mögliche Verständigung ist bspw. keine Zusammenarbeit von individuell ausgebildeten, produktiven Mitarbeitern trotz ihres Humankapitals („human-capital“) möglich.

Die hohe kulturelle Leistung der Entwicklung einer eigenen Schrift wird voller Stolz und als Bildungsauftrag u.a. im Schriftenmuseum „Matenadaran“ in Eriwan u.a. mit vielen Übersetzungen aus dem griechischen Altertum präsentiert.

So wie jede Leistung ist sie auch zu relativieren. Deutschland und Europa kamen aber zu den Übersetzungen von Archimedes, Aristoteles, Ptolemäus u.a.  über eigene Quellenstudien und insbes. über die abbasidischen Übersetzungen sowie Interpretationen aus der „Akademie von Bagdad“ eingerichtet von al-Mamun, dem seit dem Jahre 821 regierenden Kalifen des Großreiches Kalifat von Bagdad.[1] Verhängnisvoll wirkte der Stolz auf die Schrift bspw. in der Diskussion im Osmanischen Reich um 1900, das arabische Alphabet durch das armenische bei der Verschriftlichung des Türkischen zu ersetzen.[2] Diese Diskussion beendete das eher ambivalente Verhältnis zwischen Türken und Armeniern.  Das Verhältnis zerbrach dann nahezu endgültig, als die Armenier im Osmanischen Reich zuerst die Gleichberechtigung von Islam und AAC (Armenian Apostolic Church) in einem säkularen Staat forderten (!) Sultan Abdüll Hamid lehnte dieses ab. Der Pan-Islamismus wurde damit gestärkt. Und der endgültige Bruch kam, als Zar Nikolas II. 1916 den Armeniern in Istanbul, wo sie zur Elite der Kaufleute und Handwerker gehörten, einen eigenen armenischen Staat mit Istanbul versprach.[3]

     3.b.2.  —  ein gemeinsamer Glaube

Zum Kern eines Sozial-Kapitals gehören auch gemeinsame Vorstellung von einer Identität (der weit zerstreut lebenden Armenier), von einem gemeinsamen Geschichts- und Zeitverständnis sowie von den Institutionen und Zielen der Republik Armenien und ggfs. von einer gemeinsamen christlichen (orthodoxen-) Religion wie in Armenien.

Doch wie wirkt der Nationalstolz, der erste christliche Staat gewesen zu sein, auf die Politik und die Verhaltensweisen? Führt die Religion zu einem Gefühl moralisch-religiöser Überlegenheit oder einem empfundenen Auftrag zur Bekehrung Andersgläubiger?

Nach dem 2. Waffenstillstandsabkommen im Berg-Karabach forderten zunächst einzelne Priester den Rücktritt von Premierminister Paschinjan und behinderten ihn so stark wie möglich u.a. bei Flügen zu Verhandlungen und bei Besuchen von Orten und Kirchen/Klöstern in Armenien (wie bspw. Goris im Dez. 2020). Der Erzbishof Arshak Khachatry forderte am 7.1.2021 in Übereinstimmung mit dem Katholikos der Armenisch- Apostolischen Kirche Garegin II. den Rücktritt von Paschinjan mit zwei fragwürdig erscheinenden Begründungen: Er sei verantwortlich für die militärische Eskalation gewesen genauso wie für die Niederlage.

Wohin aber führen sie, wenn es eine von Eigeninteresse getriebene Erklärung des Klerus war, die zufällig ein mögliches zentrales Ansinnen von Paschinjan traf. Es erscheint möglich, dass dieser den (nicht zu verhindernden oder befürworteten) Krieg laufen ließ, um möglichst viele okkupierte aserbaidschanische und mehrheitlich von Aserbaidschanern ursprünglich bewohnte Distrikte und Orte (wie Schuscha) zu „verlieren“, um mit ihnen quasi einen die Republik schwer belastenden „Ballast“ abzuwerfen, um das seit Jahren an Höhe verlierende Luftschiff „Armenien“ noch vor dem Aufprall zu retten? Die Dramatik der Lage der Republik Armenien hat Paschinjan mehrfach durch Warnungen vor dem „Aussterben“ und damit dem Ende der Republik Armenien zum Ausdruck gebracht.

Mit diesen Begründungen aber demonstrierte die apostolische Kirche ihre politische Stärke und Ansprüche.  Dabei entsprechen diese Begründungen den populistischen Argumenten expansionistischer Parteien und Gruppen mit ihrem überall ertönenden Ruf: „Verräter“, weil er den Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet hat und diese Menschen die Fortsetzung des Krieges mit Aserbaidschan wollten und wollen —  wenn nicht sofort, dann doch bei abgeschlossener Wiederaufrüstung. Der Klerus sucht scheinbar diese Nähe, weil er wohl nur mit derartigen nationalistischen Kräften die Regierung stürzen und seinen politischen Einfluß und seine politische Macht wieder stärken und ausbauen kann. Die Kirche formt fast eine Art von „Vereinigung“ gegen Paschinjan, der politisch vielen als nahezu „erledigt“ erscheint. Wenn derart der Zweck die Mittel heiligt, dann werden alle Mittel willkommen sein – auch die Forderung nach einer schnellen Wiederaufrüstung finanziert durch die sog. Diaspora oder durch massiv reduzierte Sozialausgaben – beides zu Lasten des Wohles und der Zukunft des armenischen Volkes. Dieses wird dann zugleich durch ein extrem überzeichnetes Feindbild Aserbaidschan und Moslems national-emotionalisiert und radikalisiert.

Die Entmachtung von Paschinjan erscheint dabei deshalb betrieben zu werden, weil dieser den Einfluß der Kirche / des Katholikos seit 2018/19 auf die Religion und die Kircheneinrichtungen zu beschränken trachtet (keinen Einfluß der Kirche auf die Politik bspw in Form einer direkten Abstimmung geplanter Politiken mit der AAC zuvor, wie es bei den Präsidenten Kocharian und Sargsyan erfolgte und wohl auch keinen Schulunterricht zur Geschichte des AAC mehr usw.). Diese Kampagne Paschinjans lief ohne vorherige Abstimmung mit der Kirche ab und propagierte die „Pan-Armenians-Idea“, um alle Armenier zu einen. Zugleich sollte diese Kampagne die Bindung an Rußland schwächen, waren doch Armenier bei dem Auftreten Rußlands im Kaukasus aus dem Osmanischen Reich geflohen und suchten Schutz unter den Schirm eines christlich (orthodoxen-) Staates.[4]

     3.b.3.  – Gemeinsamkeit aller Armenier?

„Armenier“ sind dabei alle Armenier in der Republik Armenien sowie alle Armenier in der sog. Diaspora[5] – dieses sind Armenier im Ausland mit einem armenischen Paß (Auslands-Armenier) sowie Ausländer wie bspw. Franzosen mit einem armenischen Migrationshintergrund und einem französischen Paß oder mit einer doppelten Staatsbürgerschaft. Die Diaspora-Armenier haben i.d.R. ihre alte, historische oder traditionelle Heimat verlassen oder wurden aus ihr vertrieben.

Es könnten die auf bis zu  rd. 10 Millionen geschätzten Armenier im Ausland (Diaspora) zwar in die Republik Armenien einwandern, sie sind es aber nicht und haben seit Jahren und Jahrzehnten eine neue Heimat in den USA, in Frankreich und anderen Ländern gefunden.  Sofern eine Auswanderungsabsicht in den Kaukasus besteht, aber nicht erfolgt, sind dafür hauptsächlich zwei Gründe entscheidend: Dieses sind erstens ökonomische Vergleiche (zu große Differenzen in der Wohlfahrt, in dem erzielbaren Einkommen, in den Zukunftsperspektiven, in der Stabilität der Republik – also Verluste bei der Einwanderung)[6] und zweitens die traditionellen und spezifischen regionalen Vorstellungen von der zumeist verherrlichten, fast glorifizierten alten Heimat weichen zu stark von der Realität in der existierenden Republik ab.

Gleichwohl können sie sich als Armenier fühlen und an ihren Wohnorten (ethnische, religiöse, kulturelle, nationale oder auch völkische) Gemeinschaften und damit Minderheiten bilden und dann z.T. sehr erfolgreiche Lobbyarbeit für das Armenien ihrer Vorstellung betreiben.

Diese 10 Millionen zusammen mit den 2 Millionen in Armenien lebenden Menschen können als das „Armeniertum“ verstanden werden.

Angesichts der Südwanderung im 12. und 13. Jahrhundert mit der Spaltung in Ost- und Westarmenier sowie der „Aufspaltung“ der Migrationsströme nach dem Weltkrieg gen West oder gen Ost mit sehr unterschiedlichen Lebensumwelten sind die Vorstellungen von einer armenischen Identität zwar nicht prinzipiell unsinnig, aber wenig wahrscheinlich. Dieses gilt auch bezüglich einer gemeinsamen, einheitlichen Vorstellung von einer armenischen Geschichte (evtl. eher der Kirchengeschichte) sowie bezüglich der Zukunftsperspektiven und Visionen.

Und hier liegt ein zentrales Problem für den Friedensprozeß im Kaukasus. Die in Armenien lebenden und stets hart betroffenen Menschen erinnern, denken und träumen anders als die Armenier in der Diaspora, die die alte Heimat und ihre Größe eher verherrlicht in die Zukunft projizieren und zur Finanzierung des Staatbudgets sowie von Investitionen Geld schicken, womit aber bestimmte Erwartungen an die Ausrichtung der Politik der Republik verbunden sind.

In dieser Dominanz dieser Diaspora-Armenier steckt die größte Unsicherheit für einen nachhaltigen Frieden im Kaukasus.  

Die AAC sieht als zentral die Bindung aller Armenier in der Religion und verstärkt durch diese Bindung zugleich ein bestimmtes Traditions- und Geschichtsbewußtsein –  auch bzgl. der Rolle der armenischen Apostolischen Kirche – und damit die Sicht auf die Zukunft und die Gegenwart innerhalb der Cloud eines gemeinsamen Sozial-Kapitals. Diese Gewichtungen und Ausrichtungen u.a. der Politik werden so wahrscheinlich durch das große Gewicht der Diaspora „verzerrt“. Damit geht dann einher ein politischer und gesellschaftlicher Realitätsverlust sowie eine Stärkung von militärisch-expansionistischen Parteien und Kräften mit immer neuen, weitreichenden Gebietsforderungen.

Die größte Gefahr für den Friedensprozeß und eine Pax Trans-Caucasia liegen derart in der Republik Armenien, insbesondere in ihrer Abhängigkeit von der armenischen Diaspora.

       4.  Voraussetzungen für eine gemeinsame Zukunft

Die Republik Armenien muß die völkerrechtlichen Grenzen anerkennen und darf die Politik nicht an einer vermeintlichen alten Größe Armeniens ausrichten. Es gibt zwar im Internationalen Recht, Völkerrecht das Recht auf Selbstbestimmung. Aber es gibt kein Recht auf Heimat und kein Recht, in einem Staat mit einer eigener ethnischen Mehrheit zu leben. Diese Rechte sind an den Vetorechten der Siegermächte gescheitert, u.a. weil sie die massiven Vertreibung und Umsiedlungen unmittelbar nach Kriegsende derart irreversibel machen wollten.[7] 

Dieses bedeutet letztlich, dass Erkenntnisse von alten armenischen Siedlungsgebieten, Königreichen, Ursprungsbesiedlungen usw. für Historiker und die Gesellschaft hoch interessant und bedeutsam sind, aber nicht für den Versuch taugen, bestehende völkerrechtliche Grenzen mit Waffengewalt zu verschieben. Davor stehen auch das Recht auf territoriale Integrität sowie die besondere Ächtung von Angriffskriegen.

Diese Erkenntnis und die internationale Rechtslage in der Republik Armenien sowie möglichst auch in der Diaspora zum Durchbruch und zum politischen Konsens zu führen, ist die unmittelbare Aufgabe der Regierung – auch wenn sie anfangs wahrscheinlich im Parlament nur von Wirtschaftsausschüssen unterstützt werden wird und auch wenn militant expansionistische Parteien und Gruppierungen sowie möglicherweise die Kirche (AAC) und das Militär ihr entgegenstehen werden. Es ist wohl die wichtigste und zugleich größte Herausforderung für die Politik in Armenien.

Aber

 — ohne diesen zu schaffenden politischen Konsens erscheint ein dauerhafter Friede im Kaukasus nahezu unmöglich.

Und

— ohne diesen Konsens kommt es zu keiner vollumfänglichen Kooperation und damit in der Republik Armenien zu dem weiteren Verlust an Zukunftsperspektiven sowie weiteren Teilen der Jugend. Es droht Armenien dann die Gefahr einer „Implosion“, insbes.  wenn weiter in allen Ländern Transkaukasiens knappe Ressourcen in die militärische Ausrüstung und das Militär investiert werden (müssen), statt in Aufbau und Zukunftssicherung sowie Bildung und Leben.

Prof. Dr. Wilfried Fuhrmann, Potsdam

Stand 18.1.2021

Anmerkungen:

[1] Zwischen diesem Kalifat und Byzanz wurde in Kleinasien ein armenisches Königreich gegründet mit seinem Höhepunkt um 900.

[2]Viele Armenier waren aus Kleinasien ausgewandert, auch auf die Krim. Dort wurde aufgrund der mongolischen Einflüsse Elemente deren Türksprache aufgenommen und dieses führte zum: Kiptschak-Türkisch, was dann wiederum als eine Begründung („Erfahrung“) für die oben genannte Diskussion diente.

[3] Hier zeigte sich ein tiefe Spaltung der Armenier, während die in Istanbul und dem Osmanischen Reich lebenden Armenier versuchten sich loyal zum Staat zu verhalten und derart zu verständigen, bestimmte die armenische Diaspora in Paris auf der Seite der Entente zu stehen.   

[4] Hierzu gehört auch die von Paschinjan betriebene Politik der Komplementarität, d.h. aus der Eurasischen Union mit der Bindung an Rußland sowie gleichzeitig aus einer Zusammenarbeit mit der EU im Nachbarschaftsprogramm maximale Vorteile zu ziehen. 

[5] Der Begriff der Diaspora wird heutzutage zumeist ohne eine klare Definition verwendet. Er ging primär auf das Ende von Judäa (586 v.Chr.) zurück, war bezogen auf jüdische Menschen und umfaßte die zerstreut lebenden, aus ihrer Ursprungsregion vertriebenen Menschen, die keinen eigenen Staat oder keine Region mehr haben, in der sie als Mehrheit leben können. Im Falle der Gründung/Existenz eines eigenen Staates wird implizit der Umzug dorthin unterstellt.

[6] Die Bevölkerung Armeniens schrumpf seit Jahren u.a aufgrund der Auswanderung vieler jüngerer Menschen, die in der Republik Armenien keine Zukunftsperspektiven sehen und auch nicht bereit sind, für Berg-Karabach oder andere Distrikte zu sterben.

[7] Man denke bspw. an die Massenvertreibungen von Polen (aus Lemberg und Ostpolen), von Deutschen (aus Ostdeutschland – Ostpreußen, Westpreußen, Schlesien usw.) und vieler anderer Volksgruppen. 

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