Michael Reinhard Heß: Gedanken zur Genese des Karabach-Konflikts

By Dr. Michael Reinhard Heß Ноя 10, 2020
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Dr. Michael Reinhard Heß

Dr. Michael Reinhard Heß

Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe. Thema der Habilitation waren Leben und Sprache des aserbaidschanischen Dichters İmadәddin Nәsimi (1370–1417).

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Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.

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Hier teile ich noch ein paar recht unsystematische Gedanken, die zum Teil das Ergebnis der Social-Media-Diskussionen der letzten Tage und Wochen sind.

Was dieser Post hier bezweckt, ist, einige grundlegende Fragen aufzuwerfen, die einerseits die Darstellung des Konflikts, anderseits den Umgang damit, im privaten Bereich wie in den Medien, betrifft. Das Ganze ist nicht systematisch und strukturiert, sondern subjektiv und so ausgewählt formuliert, wie es mir in den Sinn gekommen ist. Es geht zu einem wichtigen Teil um die Frage, wie man den Berg-Karabach-Konflikt darstellt, wo man historisch ansetzt, welche historischen Verbindungslinien man zieht.

Ein Standardnarrativ in der proarmenischen Sichtweise auf den Konflikt ist die Behauptung, dass das gewaltsame militärische Eingreifen Armeniens in Aserbaidschan um die Wende von den 1980er zu den 1990er Jahren eine Reaktion auf Pogrome und Verfolgungen von Armeniern in Aserbaidschan, vor allem auf die Massaker in Sumqayıt (um den 27. Februar 1988) gewesen sei. Wie bekannt, fanden die wesentlichen Akte zur Sezession Berg-Karabachs ab 1988 statt (Beschluss des Regionalsowjets der Autonomen Region Berg-Karabach/ Nagorno-Karabachskaja Avtonomnaja Oblast´, NKAO vom 20. Februar 1988 usw.). In sehr vielen historischen Werken wird dieses Ereignis beziehungsweise das Jahr 1988 als Beginn der aktuellen gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Armeniern und Aserbaidschan betrachtet. Bekanntlich mündeten die Geschehnisse schließlich in der international nicht anerkannten Etablierung der „Republik Artsakh“ auf aserbaidschanischem Territorium.

Was mich beim Prozess, der in die Ausrufung der sogenannten „Republik Artsakh“ mündete, stutzig gemacht hat, ist dass die Initiative zur Abspaltung der NKAO (Autonomen Region Berg-Karabach) von Aserbaidschan augenscheinlich nicht von der NKAO allein ausgegangen ist, sondern zu einem wesentlichen Teil von der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik (ArmSSR) ausging, wo eine Mobilisierung im Hinblick auf eine Statusänderung der NKAO schon 1987 begann. In meinem Buch „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster Verlag, 2016) habe ich Indizien gesammelt dafür gesammelt, dass der Auslöser oder zumindest wesentliche Teile des Auslösungsprozesses des ganzen separatistischen Projekts in der Armenischen SSR liegen könnte. Vermutlich werden Menschen, die sehr gut Armenisch können, aber nicht unbedingt die in Armenien herrschende Sichtweise teilen, noch sehr viel mehr und Detailliertes zu diesem Thema zutage fördern können. Aber auch in der in anderen Sprachen erschienen Literatur gibt es deutliche Hinweise auf eine starke geistig-ideologische Befeuerung der separatistischen Bewegung, die aus der Armenischen SSR kam. Ferner gab es ja auch in der NKAO von armenischer Seite Gegenstimmen und Protest gegen die Besetzung durch Armenien (steht auch in dem Buch). Das spricht aus meiner Sicht gegen die von armenischer Seite immer wieder verbreitete Sicht, es habe sich um einen notwendigen Befreiungskampf von aserbaidschanischer Unterdrückung der Berg-Karabach-Armenier oder gar um eine Verhinderung eines neuen Genozids gehandelt.

Das Verhältnis zwischen der armenischen und der aserbaidschanischen Bevölkerung in der Sowjetzeit (in der NKAO und außerhalb) spielt bei der Beantwortung dieser Frage eine wichtige Rolle. Es wird von verschiedenen Seiten natürlich unterschiedlich dargestellt. Es gab unbestreitbar Gewalttaten von beiden Seiten, die zum Teil unterschiedlich bewertet werden, am bekanntesten ist wohl das Pogrom von Sumqayıt.

Mein Eindruck ist, dass in der Sowjetzeit die ethnischen Spannungen zwischen beiden Nationen unterschwellig vorhanden waren, sich aber nicht entladen konnten, weil die Moskauer Zentrale das verhindern wollte und konnte. Hinterher kann man natürlich leicht behaupten, dass die Armenier trotzdem unterdrückt wurden, aber wo sind da die Beweise?

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Es hat in der spätsowjetischen Zeit zweifellos Morde an Armeniern in Aserbaidschan gegeben. Doch rechtfertigt dies den Einmarsch mit Panzern und allem Drum und Dran, unter Beteiligung russischer Einheiten, und den geplanten, systematischen Massenmord an Zivilisten, wie er von der armenischen Armee in Xocalı 1992 begangen wurde (nach aserbaidschanischen Angaben gab es dabei 613 tote Zivilisten, die Schilderungen von Zeugen, die Berichte und Fotos sind kaum zu ertragen), die Besetzung nicht nur Berg-Karabachs, sondern auch weiterer Gebiete Aserbaidschans, zusammen 20% des Staatsgebiets? Wo ist da die Verhältnismäßigkeit?

In den deutschen Medien ist immer wieder von den etwa 145.000 Armeniern in Berg-Karabach die Rede, von den 45.000 Aserbaidschanern, die die Armenier von dort vertrieben haben, um ihr ethnisch gesäubertes „Artsakh“ aus der Retorte zu heben, habe ich seit September noch in keinem einzigen deutschen Presseartikel etwas gelesen. Mein Punkt ist nicht, dass die Aserbaidschaner total gut und unschuldig seien. Aber herrscht bei uns nicht doch eine sehr einseitige (pro-armenische) und oberflächliche Sicht auf den Konflikt?

Zum Thema Genozid allgemein: Kann ein historischer Genozid, wie der von 1915, tatsächlich als „Argument“ für die von den Armeniern begangenen Kriegsverbrechen und die völkerrechtlich illegale (was niemand bestreitet und was die UN in vier Resolutionen so dargestellt haben) Besetzung aserbaidschanischen Territoriums mit anschließender ethnischer Säuberung herhalten, oder müsste man nicht eher argumentieren, dass genau WEGEN der Erinnerung an das Unbeschreibliche, das den Armeniern 1915 widerfahren ist, ethnische Säuberungen, Angriffskriege und Massakern an Zivilisten tabu sein sollten, und zwar, gleich von welcher Seite?

Ich muss in solchen Situationen immer an das Vermächtnis der türkischen Schriftstellerin und Anwältin Fethiye Çetin und ihr berühmtes Buch „Meine Großmutter“ (Anneannem) denken (siehe etwa Çetin, Fethiye: Anneannem [Meine Großmutter]. 9. Aufl. Istanbul: Metis). Dessen Fazit lautet, soweit ich mir anmaßen kann, es nachzuformulieren: Das, was den Armeniern 1915 geschehen ist, darf nie, nie, nie irgendjemand anderem angetan werden. Ich füge hinzu: Das, was den Juden von uns Deutschen 1933 bis 1945 angetan wurde (und vieles, was Juden von uns Deutschen immer noch oder schon wieder angetan wird!), darf niemals wieder irgendjemandem angetan werden. Ein Genozid rechtfertigt keinen Mord, keinen Massenmord, keinen weiteren Genozid, sondern nur den konsequenten Kampf aller Menschen gegen all dies. Wir müssen, jeder mit seinen Mitteln, gegen die Logik jeden Mordens, Vertreibens, Verfolgens und jedes Genozids angehen. Jedes Genozids, unabhängig von der Nationalität, Sprache, Herkunft, Religion und so weiter der potentiellen Opfer.

Wenn man in diesem Zusammenhang schon nicht moralisch argumentieren will, dann vielleicht auf einer praktischen Ebene: Hat die Gewalt von Armeniens Armee gegen Aserbaidschan seit 1988 tatsächlich dazu beigetragen, dass auch nur irgendein Mensch eher bereit gewesen wäre, die Realität des Genozids von 1915 anzuerkennen? Ehrlich gesagt, kann ich keine „konkreten Gründe“, die manche in dem Krieg, der von 1988 bis 1994 seine heißeste Phase hatte, für eine Berufung auf den Genozid von 1915 sehen möchten, nicht nachvollziehen. Welche Gründe sind dies, und warum sind sie „konkret“? Wer von denjenigen, die den Krieg von 1987 an herbeiredeten und -demonstrierten, hat denn wirklich den Genozid miterlebt? Wenn ein paar armenische Teenager vor dem Brandenburger Tor demonstrieren und von „existenzieller Bedrohung“ sprechen – wen oder was repräsentieren sie dabei?

Wenn man sich den Terroristen Monte Melk´onian (1957-1993) ansieht, der für die Armenier in Karabach kämpfte (und starb), dann sieht man, dass auch er sich auf 1915 berief und dafür mordete. Und zwar Menschen, die 1915 noch nicht einmal geboren waren. Ist das legitim? Darf man vergangenes Unrecht auf eigene Faust mit gegenwärtigem Unrecht „rächen“? Was hätten die Aserbaidschaner, die 1988 in Berg-Karabach ermordet wurden und von dort vertrieben wurden, für eine Schuld am Genozid von 1915 haben können, der in Anatolien und Syrien und nicht in Aserbaidschan begangen wurde?

Charakteristisch für der pro-armenischen Position in deutschen und europäischen Medien ist ein Polyphonie der Argumente. Der Hinweis auf den Genozid von 1915 wird mit bis in die Antike zurückreichenden historischen Ansprüchen (Tigran der Große, Christianisierung der Armenier usw.) verknüpft, das Ganze mit Kritik an Aserbaidschans Verbündetem Türkei und Dschihadismusvorwürfen garniert. Vielfach ist auch Neid auf den Öl- und Gasreichtum Aserbaidschans und seine wirtschaftliche Macht erkennbar. Mitunter wirft die Verbindung oder das direkte Nebeneinander von aus so verschiedenen zeitlichen, räumlichen und inhaltlichen Bereichen verdächtig und gezwungen. Wenn die (in meinen Augen vollkommen unglaubwürdige) These, dass Aserbaidschan (und sein Verbündeter Türkei) heute den Genozid an den Armeniern von 1915 fortsetzen, stimmen würde, brauchte man dann überhaupt noch all die anderen Argumente, wie die angebliche historische Kontinuität der armenischen Kulturpräsenz in „Artsakh“? Durch die Juxtaposition von sehr disparaten Argumenten erscheinen sowohl diese als auch die Gesamtargumentation unglaubhaft.

Im Zusammenhang mit der erwähnten Kritik an Aserbaidschan wird vielfach auch das dortige politische System angeprangert. Es sei eine „unhinterfragte Autokratie“, heißt es da beispielsweise. Aber viele schreiben dies, ohne dort gewesen zu sein, oder, indem sie nur eine sehr entfernte und oberflächliche Kenntnis vom Land und seiner Geschichte haben. Mein Eindruck aus Baku, wo ich ungefähr zehn Mal, teils länger, war, ist keinesfalls, dass die aserbaidschanische Regierung „unhinterfragt“ sei. Es gibt auch aserbaidschanische Opposition, im In- wie im Ausland. Nicht alle Aserbaidschaner finden alles toll, was die aserbaidschanische Regierung tut und lässt. Ob es in Armenien wirklich so frei und demokratisch zugeht, wie in der deutschen Presselandschaft vielfach behauptet (auch dies ein weiteres der disparaten Argumente im anti-aserbaidschanischen Argumentationsmix) kann ich nicht sagen, auch wegen fehlender Armenischkenntnisse und weil ich noch nie dort war. Aber wie frei und demokratisch ist ein Land, das wirtschaftlich, militärisch und politisch vollkommen von Russland abhängt und dessen sonstiger wichtigster Verbündeter Iran ist, zwei Länder, die auch nicht gerade Leuchttürme der Demokratie und Menschenrechte sind? Und nehmen wir einmal an, Armenien sei wirklich so demokratisch, wie dies mancherorts behauptet wird, dann bin ich mir trotzdem nicht sicher, ob die Regierungsform überhaupt etwas mit der Legitimität von (Außen-)Politik zu tun haben muss. Die USA sind eine Demokratie, aber in Vietnam haben Verbrechen begangen, die selbst im 20. Jahrhundert zu den fürchterlichsten gehörten. Wäre armenische „Demokratie“ denn eine Rechtfertigung für den Xocalı-Massenmord?

Aserbaidschan ist ein autoritärer Staat, aber ich finde, man muss den historischen und geographischen Kontext berücksichtigen, in dem Aserbaidschan seine Unabhängigkeit errungen ist (postsowjetische Zeit, Zerfallsprozesse). 1993 war der gerade erst unabhängig gewordene aserbaidschanische Staat fast wieder am Auseinanderfallen, und zwar zu einem wesentlichen Teil deshalb, weil es Opfer der völkerrechtswidrigen und brutalen armenischen Aggression geworden war. Vielleicht wäre der aserbaidschanische Staat ja auch auseinandergefallen, wenn nicht Heydәr Әliyev, sehr wohl autoritär und strikt, das Heft in die Hand genommen hätte. Vielleicht werden sich einige Deutsche ja aus dem Geschichtsunterricht (gibt es so was noch an deutschen Schulen?) auch einmal erinnern wollen, wie autoritär und gewaltsam die Reichsgründung von 1871 war…

Viele Reaktionen auf meinen am 27. Oktober geposteten Text merkten in Facebook-Kommentaren an, dass man diesem noch viel hätte hinzufügen können. Na gut, aber es war nun einmal ein für die „Berliner Zeitung“ bestimmter Presseartikel, bei dem die Zeitung ein Limit von 10.000 Zeichen vorgegeben hatte (tatsächlich sind es 9977 geworden, ich finde also, ich habe meine theoretischen Möglichkeiten ganz gut ausgenützt).

Aber gleich, wie lange man schreibt und redet: Man verliert sich irgendwann in der ungeheuren Komplexität des Konflikts, der historischen, juristischen, politischen, sprachlichen usw. Dass sich die am Konflikt Beteiligten nicht unbedingt einigen können, wo man ansetzt, um den Konflikt zu erklären und Positionen zu begründen (330 v. Chr., 6. Jahrhundert n. Chr., 1805, 1828, 1905-1906, 1918, 1920, 1923, 1988? um nur ein paar Daten zu nennen, die so in der Literatur kursieren), ist bereits Teil des Problems. Da habe ich auch keine Lösung. Ich sehe aber auch nicht, dass irgendeine der beteiligten Kulturtechniken oder Aktivitäten (Juristerei, Diplomatie, Wissenschaft, Schriftstellerei) in den letzten drei Jahrzehnten in der Lage gewesen wäre, den Konflikt signifikant zu entschärfen. Und das ist wohl auch einer der Gründe dafür, dass jetzt leider wieder die Waffen sprechen mussten, damit Aserbaidschan zu seinem international verbrieften Recht kommt, nämlich Herr über sein eigenes Staatsgebiet zu sein.

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