İmadәddin Nәsimi (Imadeddin Nasimi): Wo bist du?

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Dr. Michael Reinhard Heß

Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe. Thema der Habilitation waren Leben und Sprache des aserbaidschanischen Dichters İmadәddin Nәsimi (1370–1417).

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Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.

Exklusiver Beitrag fürs Alumniportal Aserbaidschan

Hardasan? Wo bist du?

So lautet die Kernfrage in einer von Nәsimis berühmtesten Ghaselen. Sie wird immer am Ende eines Doppelverses wiederholt. Dadurch erklingt sie so oft, dass sie tief im Gedächtnis haften bleibt.

Das Einfache ist nicht selten von größter Tiefe. Die von Nәsimi poetisch in den Fokus seines Gedichts gerückte Frage ist auf Aserbaidschanisch sogar noch einfacher als die drei Wörter ihrer deutschen Übersetzung. Sie besteht nur aus einem einzigen Dessen drei gleichvokalische Silben kondensieren gleichermaßen Jahrtausende Religions- und Philosophiegeschichte in einem Atemzug. Niemand hat übrigens die umfangreichen semantischen und kulturgeschichtlichen Bezüge von Nәsimis Hardasan bisher eindrucksvoller dargelegt als der bekannte italienische Dichter, Literaturwissenschaftler und Übersetzer Davide Rondoni. Er widmete der Ghasele Hardasan auf dem zweiten Nәsimi-Festival in Baku 2019 seinen Vortrag.

Die orientalische Gedichtform der Ghasele ist ihrer Definition nach ein Liebesgedicht. „Wo bist du?“ ist daher auf einer bestimmten Ebene als die an eine Partnerin oder einen Partner gerichtete Frage eines Liebenden oder einer Liebenden (hardasan schließt keinerlei grammatisches oder natürliches Geschlecht ein oder aus). Wo finde ich dich? Du fehlst mir! Komm zu mir! Komm zurück!

Aber wer ist dieses „Du“? Und wer überhaupt ist jenes „Ich“, das die Frage stellt? Und worum geht es hier eigentlich?

Es ist Ausdruck von Nәsimis dichterischem Jahrtausendgenie, auf derartige Fragen nur in den seltensten Fällen eine einfache und unmittelbare Antwort zu geben. Hardasan ist also nicht nur dem primären Wortsinn und der formalen Struktur nach eine Frage (bestehend aus Fragewort, harda „wo?“ und der Kopula san „du bist“). Vielmehr ist es eine Frage, in der weitere Fragen enthalten sind. Ihre Beantwortung ist ebenso in der Absicht des Dichters wie die Entstehung neuer Fragen. Hardasan fragt nicht nur nach dem Wesen des „Du“, sondern auch nach dessen Ort, nach dem Ort und Wesen des fragenden „Ich“, und nach dem Verhältnis zwischen alledem.

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Selbst wenn im vorliegenden Aufsatz nicht nur dieses eine Wort, hardasan, sondern die ganze Ghasele zur Debatte stünde und ausführlich diskutiert würde (wozu ohne Weiteres einige Zehntausend Wörter verwendet werden könnten…), gäbe es wahrscheinlich nicht die eine einfache, kompakte, griffige und unstreitbare Interpretation. Das zeigen vergleichbare Nәsimi-Interpretationen, die sich auf mehr als ein Wort, auf mehr als einen Satz beziehen. Die Organisatoren des erwähnten Nәsimi-Festivals 2019 veranstalteten ein entsprechendes Experiment, indem sie zwei Verse aus einer (anderen) Nәsimi-Ghasele von fünfzehn führenden literaturwissenschaftlichen Experten deuten ließen. Dabei heraus kamen fünfzehn verschiedene Interpretationen, von denen sich eine schöner und interessanter als die andere liest. Sie sind in einem Sammelband von der weltweit führenden aserbaidschanischen Nәsimi-Kennerin Sәadәt Şıxıyeva herausgegeben worden (siehe die Literaturliste unten).

Fest steht allemal, dass weder die Hardasan– noch irgendeine andere von Nәsimis Ghaselen sich nur auf das profane Liebesgeträller von verliebten Menschen bezieht, wie es in Orient und Okzident seit Jahrtausenden in Myriaden mehr oder weniger schmachtvoller Liebesgedichte und -liedchen besungen wird. Man wird in Nәsimis Ghaselen vergeblich einen spielerisch-unernsten Unterhaltungston und in Richtung heiterer Erotik gesetzte sprachliche Signale finden, die den Hörer auf die Ebene einer profanen Beziehungskiste brächten. Nәsimis Dichtung ist bei aller ihrer Schönheit, Eingängigkeit, Formvollendung, Eleganz und Subtilität keine reine Unterhaltungsliteratur. Kaum überbrückbar etwa scheint die Distanz zwischen Nәsimis anspruchsvoller Diktion und den von dem türkischen Schriftsteller Murat Menteş in seinem humoristischen Roman Ruhi Mücerret (2013) zitierten Zeilen aus einem Lied der türkischen Version von Cindy und Bert, Güzin ile Baha:

Aşk bahçemi süsleyen inci çiçeği misin?

Gecemi aydınlatan ateş böceği misin?

„Bist du die Schattenblume, die im Garten meiner Liebe erblüht?

Bist du der Glühwurm, der in meiner Nacht so hell und strahlend glüht?“

Wenn es in Hardasan also nicht um banale Liebesdramatik geht, worum dann? In einem Youtube-Video, das mit der Originalversion der Ghasele Hardasan unterlegt ist, sieht man Szenen aus dem weltberühmten Nәsimi-Film von 1973. Der Nәsimi verkörpernde Hauptdarsteller Rasim Balayev irrt darin durch die Gassen einer mittelalterlichen orientalischen Stadt. Das suchende Auge der Kamera setzt die Frage „Wo bist du?“ direkt um. Denjenigen, den die Kamera beziehungsweise Nәsimi sucht, sieht man nicht.

Doch wen sucht Nәsimi?

Man kann sich der Bedeutung der kryptischen Frage Hardasan auch von einer ganz anderen Seite näheren. Indem wir uns nämlich fragen: Wen suchen wir, wenn wir diese Frage stellen? Wer sind wir, wenn wir diese Frage stellen? Dass diese Abkehr vom Text und Hinwendung zu uns selbst legitim ist, darin gibt uns Nәsimi im Übrigen selbst recht. In einem anderen, weltberühmten Gedicht rät er: „Sieh Gott in dir, geh nicht in die Ferne!“ (Gör sәndә Hәqi vә gitmә iraq).

In einem Buch über den Buddhismus las ich einmal eine Passage, in der ein meditierender Mönch sich genau diese Frage immer dann stellte, wenn er das Gefühl hatte, abzuschweifen und in seiner Konzentration schwach zu werden. „Wo bist du?“ kann in solchen Situationen eine Suche nach Verwurzelung sein, nach Rückkehr auf den Boden der Tatsachen. Mit dem „Du“, das in der Frage enthalten ist, kann man also auch sich selbst meinen. Das Du und das Ich sind direkt miteinander verbunden, sie sind aufeinander beziehbar und hängen voneinander ab.

In ähnlicher Weise sind bei Dichtern wie Nәsimi die beiden Aspekte der Realität, die wir mit „Du“ und „Ich“ bezeichnen, oft gar nicht voneinander zu trennen. Auch bei Nәsimi geht es letztendlich häufig um das Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Die Orientalistik hat etabliert, dass Nәsimi von einer Strömung innerhalb der islamischen Mystik beeinflusst wurde, die unter dem Namen „Einheit des Existierenden“ (türkisch: vahdet-i vücut) bekannt ist. Einer der führenden Vertreter dieser Denkrichtung war der große persische Mystiker und Dichter Rumi (1207-1273). Rumis Verse inspirierten direkt und entscheidend den spirituellen Lehrer Nәsimis, Fazlallah von Astarabad (ca. 1340-1394). Die Denkrichtung des vahdet-i vücut legt die Herstellung von Bezügen zwischen Mensch und Gott, Geschöpf und Schöpfer nahe. Schon vor Nәsimi wurde die Vielschichtigkeit und Komplexität der personalen Bezüge in der mystischen Dichtung im Übrigen auch in türkischer Sprache thematisiert. Am eindrucksvollsten geschah dies sicherlich durch den wohl bedeutendsten mystischen Dichter Anatoliens, Yunus Emre (ca. 1240-1321), etwa mit Versen wie diesen:

Beni bende demem, bende değilim

Bir ben vardır bende, benden içeri

„Ich nenne mich nicht Bei-mir(oder Sklave)! Ich bin kein Sklave (oder Bei-mir)!

Es gibt ein Ich in mir, weiter innen drin in mir.“

Wie die Gedichte Nәsimis können auch diese Verse Yunus Emres auf zahlreiche Arten interpretiert werden. Schon die grammatische Struktur und Wortwahl von Beni bende demem erlaubt verschiedene Sinngebungen (was durch die Einklammerungen in der Übersetzung angedeutet worden ist). Wenn wir uns also einer Interpretation von Nәsimis Frage Hardasan annähern, geraten wir rasch ins Zentrum von theologischen und philosophischen Diskussionen, die schon zu Nәsimis Zeiten auf eine jahrhundertelange Geschichte zurückblicken konnten. Zu all den schon genannten Schwierigkeiten, sich möglichen Interpretationen von Hardasan und anderen Nәsimi-Gedichten anzunähern, kommt aber noch eine weitere hinzu (die im Übrigen auch Yunus Emre und so gut wie alle mittelalterlichen orientalischen Dichter betrifft). Dies ist die Frage nach der Textgestalt und Textüberlieferung. Um zu veranschaulichen, worum es geht, sei hier ein mit Hardasan thematisch verwandter weiterer Nәsimi-Vers aus einem anderen Gedicht zitiert. Er lautet im Original:

Әgәrçi candasan candan nihansan

Deyilsәn candan ayrı bәlkә cansan

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, hier eine Fachdiskussion über überlieferungsgeschichtliche Details dieser beiden Verse zu beginnen. Einige dieser Fragen werden in dem unten aufgeführten Buch „Die Sprache des Menschengottes“ behandelt, von wo auch das Zitat stammt. Nur so viel: in einem Teil der handschriftlichen Überlieferung steht statt des Wortes candan „vor der Seele“ in der ersten Zeile das Wort canda „in der Seele“. Der Unterschied zwischen den beiden Wörtern ist in der arabischen Schrift des Originals minimal, er besteht im Wesentlichen aus der Verlängerung eines Strichs und einem Punkt. Da es keine von Nәsimi selbst geschriebenen Manuskripte, sondern nur von anderen später abgeschriebene Versionen seiner Gedichte, gibt, weiß man hierbei nicht, welche von beiden Lesarten die von ihm intendierte war – oder ob er am Ende gar beide autorisiert hat oder gutgeheißen hätte. In philosophischer Hinsicht ist der Bedeutungsunterschied, der sich aus den beiden voneinander abweichenden Lesungen ergibt, fundamental. Man vergleiche nur den auf der Lesung canda „in der Seele“ beruhenden Übersetzungsvorschlag

„Zwar wohnst du in der Seele, doch zeigst du in ihr dich nicht,

Du bist die Seele – nein, getrennt bist von ihr nicht!“

mit dem candan „vor der Seele“ übersetzenden

„Zwar wohnst du in der Seele, doch zeigst du ihr dich nicht,

Du bist die Seele – nein, getrennt bist von ihr nicht!“

In der ersten der beiden Übersetzungen ist das „Du“ – mag es dasselbe sein wie in Hardasan? – als in der Seele (wessen und welche wird nicht gesagt) verborgenes lokalisiert, aber nicht unbedingt als vor der Seele verborgenes. Die „Seele“ (can) könnte bei dieser Formulierung also rein theoretisch das „Du“ erkennen, da dieses nur vor jemand oder etwas anderem als der Seele verborgen wäre, dieser aber prinzipiell zugänglich sein könnte. Ganz anders dagegen verhält es sich im zweiten der beiden Übersetzungsvorschläge, der auf der Lesart candan „vor der Seele“ beruht. Bei dieser Lesart wird ausdrücklich gesagt, dass „Du“ vor der Seele verborgen bist, dass es also die Seele ist, welche das Du nicht erkennen kann.

Liest man die erste Übersetzung, könnte man, wie der durch die Gassen der mittelalterlichen Stadt irrende Nәsimi im fiktionalen Film von 1973, zur Weitersuche ermuntert werden. Denn irgendwo könnte das „Du“ ja am Ende doch noch gefunden werden, weil die Möglichkeit seiner Entdeckung durch die Seele, durch einen Selbst, vorhanden ist. Legt man dagegen die zweite Übersetzung zugrunde, wird man sich unter Umständen eher entmutigen lassen, mit Hilfe der Seele oder in der Seele nach dem „Du“ zu suchen. Denn dieses „Du“ wird in der zweiten Textfassung ja als der Seele grundsätzlich unzugänglich bezeichnet. Auf der Grundlage der zweiten Lesart wird man daher andere Schlussfolgerungen ziehen müssen. Die Unzugänglichkeit des Du wäre dabei als Tatsache hinzunehmen, woraus sich weitere philosophische, religiöse oder praktische Schlussfolgerungen ergeben könnten.

Fragen über Fragen, und sicherlich mehr Fragen als Antworten…

Allein schon mit in einem einzigen Wort, Hardasan, öffnet uns Nәsimi also den philosophischen Horizont bis zu den Rändern des Universums und bis zu den allertiefsten, uns allernächsten Wurzeln unseres eigenen Seins. Allein schon durch einen einzigen wiederkehrenden Versbestandteil ermöglicht uns Nәsimi, weiterzukommen auf dem Weg zu uns selbst, bei der Klärung der Frage nach dem, was wir sind und was wir nicht sind.

In dieser großartigen Perspektiverweiterung liegt ein wichtiger Teil der Bedeutung Nәsimis auch für den westlichen, nichtmuslimischen und/oder nichtaserbaidschanischen Leser. Wir müssen die Dichtung Nәsimis nicht als Teil der Religions- und Dogmengeschichte des Orients lesen. Wir müssen auch nicht alle historischen und biographischen Details kennen, um sie ihre Wirkung in uns entfalten zu lassen. Auch ohne all dies ermöglicht sie uns, jenseits von Kommunitarismus oder realen oder imaginierten Grenzen zwischen Glaubensformen und -inhalten, zwischen Ländern und Kulturen, uns mit eschatologischen Fragen zu konfrontieren. Dies sind Fragen, die seit dem Beginn der Philosophiegeschichte viele Menschen zu allen Zeiten bewegt haben. Fragen, denen man sich noch nie – nicht in der griechisch-römischen Antike, nicht im chinesischen Altertum, nicht in Indien, nicht im Mittelalter und nicht in der Neuzeit und Gegenwart – hat entziehen können, ohne dafür einen fürchterlichen Preis in Form von großer Orientierungslosigkeit zu zahlen.

Auch im Jahr 2019 hat die Frage Nәsimis daher nichts von ihrer brennenden Aktualität verloren: Hardasan?

Links

Https://daviderondoni.com/biografia-e-bibliografia/ [Offizielle Website von Davide Rondoni].

Https://www.nasimifestival.live/en/program/ [Programm des Nәsimi-Festivals 2009].

Https://www.youtube.com/watch?v=cztxc2EsSr0 [Vollversion des sowjetischen Nәsimi-Films von 1973].

Https://www.youtube.com/watch?v=6NvhaNMK5XA [Youtube-Video mit Rezitation der Ghasele Hardasan].

Https://www.youtube.com/watch?v=OvWmAr5xt_4 [Youtube-Video mit Videoclip des Lieds Gençlik Başımda Duman von Güzin ile Baha]

Literatur

Heß, Michael Reinhard: Die Sprache des Menschengottes. Untersuchungen zu ‘İmād äd-Dīn Näsīmīs (fl. ca. 1400) türkischem Divan. Aachen 2009: Shaker.

Rumi in Konya. In: Heß, Michael Reinhard/ Weiberg, Thomas (Hgg.): Blätter aus dem Beiträge zum deutsch-türkischen Kulturaustausch. Berlin 2018: Edition orient-al. 29-80.
Yunus Emre als Kulturvermittler und -versöhner. In: Heß, Michael Reinhard/ Weiberg, Thomas (Hgg.): Blätter aus dem Beiträge zum deutsch-türkischen Kulturaustausch. Berlin 2018. Edition orient-al. 161-202.
“Two worlds can fit into me, I can not fit into this world”. Azerbaijan´s immortal poet İmadәddin Nәsimi. Berlin 2019. Gulandot.
Imadeddin Nesimi: Ins Absolute schwand ich hin, mit Gott bin ich zu Gott geworden. Heß, Michael Reinhard/ Moritzen, Reinhart (Übers.). Baku 2012: Sharq-Qarb.

Imadeddin Nesimi: Gedichte. Heß, Michael Reinhard/ Moritzen, Reinhart. Baku 2012: Sharq-Qarb.

Menteş, Murat: Ruhi Mücerret. 18. Aufl. Istanbul 2019: A.P.R.I.L. Yayıncılık.

Şıxıyeva, Sәadәt (Hg.): Mәtn vә kontekstlәr: Nәsiminin bir qәzәlinә dair şәrhlәr [Text und Kontexte. Kommentare zu einer von Nәsimis Ghaselen]. Baku 2019: “Elm vә tәhsil”.

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