Prof. Dr. Wilfried Fuhrmann — Berg-Karabach: Der Neuanfang als Chance!

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Titelbild: Karte der russischen Friedenstruppen in Bergkarabach, Bildquelle: Verteidigungsministerium Russlands, Stand 14.12.2020
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Prof. Dr. Wilfried Fuhrmann

ist seit April 1995 Professor an der Universität Potsdam, WiSo-Fakultät, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie, insb. Makroökonomische Theorie und Politik.

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Berg-Karabach: Der Neuanfang als Chance!
Eine Herkules-Aufgabe!

I. Zum 44-Tage Krieg

Der sog. 44-Tage Krieg um Berg-Karabach (27.9.-9.11.2020) hat den politisch gepflegten Mythos der Überlegenheit des armenischen Militärs gegenüber dem aserbaidschanischen besiegt. Er wurde besiegt aufgrund des Realitätsverlustes eines Großteils der armenischen Eliten (Politik, Religion, Gesellschaft, Wissenschaft und Militär) und insbesondere der Diaspora in Süd-Californien/USA und in Frankreich. Diese lebten und leben z.T. noch in den Vorstellungen des letzten Jahrhunderts und damit im Geiste des Eroberungs- und Siedlungskrieges um Berg-Karabach (1988-1994). In diesem Glauben wurden sie u.a. durch die westlichen Vertreter in der OSZE-Minsk-Gruppe (insbes. USA, Frankreich, Deutschland) und ihre Haltung bestärkt. Denn diese scheinen mit der Erwartung gelebt zu haben, nach Georgien hier durch ein Spiel auf Zeit und durch finanzielle Verlockungen u.a. des EU-Nachbarschafts-Programms (aber nicht nur damit) Armenien mittelfristig aus dem Bündnis mit Rußland lösen zu können und dabei die von Armenien seit dem ersten Waffenstillstand (1994) kontrollierten geostrategischen Positionen in Berg-Karabach behaupten bzw. sichern und in den Nato-Bereich einbeziehen zu können.

Die zentrale Fehleinschätzung betraf Aserbaidschan sowie die Erwartung, dass der Waffenstillstand relativ stabil war und dann, daß der dann ausgebrochene Krieg eine Fortsetzung entweder des Krieges von 1988-94 oder gar eines historisch legitimierten war. Aber es war ein ganz anderer Krieg, ein Krieg auf der Grundlage und zur Durchsetzung des Völkerrechts der territorialen Integrität ohne jede Verletzung eines anderen Teils des Völkerrechts! Es war ein Krieg Aserbaidschans auf aserbaidschanischem Gebiet innerhalb seiner anerkannten völkerrechtlichen Grenzen gegen armenische Usurpatoren um sieben aserbaidschanische Distrikte, die nahezu vollständig verwüstet und entvölkert waren.
Die armenischen Soldaten spürten diesen anderen Kriegsgrund auf dem Schlachtfeld aber sehr schnell und dass sie nicht für die Sache des Rechtes kämpfen und sterben sollten. Ihre Kampfmoral wurde entsprechend mit der Zeit in den 7 okkupierten aserbaidschanischen Distrikten immer wieder „spröde“ bis brüchig.

Aber auch die Politiker merkten es nach und nach, weil kein westliches Land ihnen im Krieg um diese Gebiete bei einer Verteidigung der anhaltenden Verletzung der territorialen Integrität Aserbaidschans zur Seite stehen wollte, obwohl die armenischen Politiker mit allen Mitteln wie bspw. falsche Anschuldigungen und Prophezeiungen wie den Untergang des armenischen Volkes und unmittelbar bevorstehender grausamer Massaker durch Aserbaidschaner an 80 bis 100 Tausend Menschen, insbesondere an unschuldigen Frauen und Kindern sowie Älteren versuchten, ihnen und der Weltöffentlichkeit eine völkerrechtliche Begründung zum Eingreifen zwecks Verhinderung eines Massenmordes (Menschenrechtsverletzungen) zu „liefern“. Man denkt sofort an die erfundenen bzw. nie gefundenen oder nachgewiesenen Massenvernichtungswaffen des Präsidenten Georg W. Bush als Begründung für den Irak-Krieg.

Gleichzeitig lehnte Armenien jedes Angebot Aserbaidschans (vom 5.10. usw.) zu einem Waffenstillstand ab bzw. es brach (zwei) offiziell vereinbarte Feuerpausen innerhalb weniger Stunden. Armenien wollten national-imperialistisch in keinem Falle alle Distrikte, letztlich keinen Distrikt, nicht einen qm besetzten Landes freiwillig zurückgeben. Aserbaidschan sollte den Zustand von 1994 als Realität anerkennen und froh sein, so auch westliche Vertreter, wenn es dann drei bis fünf Distrikte zurückerhalten könnte, schließlich hat es doch den Krieg 1994 verloren. Und einen neuen Krieg könne Aserbaidschan nicht wagen, ohne noch viel mehr zu verlieren (gemäß dem politisch gemanagten Mythos der Unbesiegbarkeit, s.o.). Armenien provozierte deshalb auch immer wieder an der Demarkationslinie – vielleicht auch um zu demonstrieren: „Ihr wagt es doch nicht.“
Mit diesem Krieg ist nicht, wie verschiedentlich zu hören und zu lesen, ein Krieg wieder ein gängiges oder erfolgreiches Mittel der Politik geworden. Aber selbst bei dieser Aussage schwingt eine im Westen häufig zu beobachtende Überheblichkeit in Wertungsfragen sowie Diskriminierung verschiedener Völker oder Länder (hier der muslimischen Aserbaidschaner) mit. Oder es ist keine Diskriminierung, sondern nur eine Doppelzüngigkeit.

Das Völkerrecht gilt ohne Ansehen des Volkes für jedes Volk. Dieser gilt unter der Voraussetzung, daß jedes Volk auf Erden und seine Kultur anzuerkennen und zu respektieren sind. Dieser Krieg um Berg-Karabach ist nicht die Fortsetzung einer Politik Aserbaidschans mit anderen Mitteln. Er ist die Folge der anhaltenden Völkerrechtsverletzung durch Armenien und seiner Akzeptanz u.a. durch westliche Länder bei derer „positions-orientierten“- Politik.
Wer heute klagt, dass Rußland und die Türkei ihre Positionen im Südkaukasus verbessert haben, sollte nicht tadelnd auf die öffentliche Zurückhaltung des Westens in diesem Krieg verweisen, sondern auf ihre scheinbare Unfähigkeit im Sinne eines Ausgleichs der nationalen Interessen der betroffenen Völker und des Rechtes zu handeln und zu agieren. Schließlich hatten sie 27 Jahre Zeit auszugleichen bzw. den Konflikt zu lösen und dadurch ihre Position zu stärken und zu verbessern. Hätten sie doch nur gesehen, gesucht und gewollt.

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II. Zur Sicherung des Friedens

Die erste große Herausforderung liegt für Aserbaidschan in der Wahrung und Sicherung des gegenwärtigen Friedens und dem Erhalt der wiedergewonnenen territorialen Integrität. Konkret liegen die Gefahrenmomente in
a) der Instabilität Armeniens und der Gefahr armenischen Terrors,
b) den Bemühungen der beiden Co-Vorsitzenden der OSZE-Minsker Gruppe, deren Politiken stark von der armenischen Diaspora beeinflußt sind.
Zu a. a)

Der armenische Premierminister N. Paschinjan kam im Jahre 2018 an die Macht und hätte einen Prozeß des Ausgleichs, der Annäherung und des Austauschs von Botschaftern mit Aserbaidschan einleiten können bzw. müssen, da es anderenfalls mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu einem Krieg um Berk-Karabach und die sieben Distrikte kommen würde. Aber Paschinjan setzte im Grundansatz die Konfrontations-Politik seiner Vorgänger fort, formte entsprechend das öffentliche Bewußtsein sowie den übersteigerten Patriotismus der rechts-nationalen Parteien mit und führte so das Land in den Krieg. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten verstärkten, wie oft in der Geschichte, die Suche nach Erfolgen in der Außenpolitik und damit im Krieg. Dieser erschien ihm offenbar als ein „easy sailing“ gegen Baku. Mit der Niederlage brach dann plötzlich für viele nationalistische Armenier die bisherige Weltsicht und das Vertrauen in die Regierung zusammen. Während die Verwandten der im Krieg Gestorbenen immer heftiger frugen, wo die Regierung das nicht von der armenischen Verfassung ausgehende Recht hernahm, diese als Soldaten nach Berg-Karabach zu schicken, wollten die „Rechts-Nationalen“ den Waffenstillstandsvertrag nicht anerkennen, forderten den Krieg unmittelbar weiterzuführen oder sofort den Vertrag zu kündigen und einen neuen Krieg zu beginnen. Sie forderten den Rücktritt der Regierung, eine Übergansregierung und Neuwahlen. Es gab und gibt Straßenunruhen und befürchtete Aufstände. Armenier aus Süd-Kalifornien forderten gar eine schmutzige Atom-Bombe mit Material aus dem armenischen AKW über Baku abzuwerfen. Paschinjan hielt sich bisher an der Macht, da seine Vorgänger ebenfalls unter Realitätsverlust litten und derart für einen Neuanfang „ungeeignet“ sind. Die Lage ist instabil. Eine revolutionäre Explosion in Eriwan erscheint jederzeit möglich, zumindest aber eine Reihe von Terrorakten in Aserbaidschan wie vor drei Tagen im Ort Sur, nahe der befreiten Stadt Hadrut im Distrikt Khojavand mit vier Toten.

Diese armenische Aggressivität wird möglicherweise angesichts des Wegfalls der Einnahmen aus dem (nicht gestatteten) Abbau von Rohstoffen jeder Art (s.u.) in den 27 Jahre lang okkupierten aserbaidschanischen Gebieten mit negativen Auswirkungen auf das Staatsbudget und damit die Sozialpolitik wieder steigen. Aber auch die Verluste militärischer Ausrüstung (rd. 4 Billionen US-$) können zu Unruhen führen, sollte eine schnelle Wiederaufrüstung gefordert werden und erfolgen (und nicht erst in 10 Jahren), da dann mit der Kriegslust die Bildungs- und Sozialpolitik zum Erliegen kommen (und die Auswanderungen wieder steigen werden).

Aber die Instabilität kann auch im Rahmen der Wiedergutmachungsverhandlungen (bei einem angerichteten Schaden in den Distrikten in der Höhe von ca. 100 Billionen US-$, wovon Aserbaidschan versuchen wird, ca. 50 Billionen einzuklagen) sowie bei den neuen Grenzfestlegungen in Berg-Karabach steigen und offen ausbrechen. Es müssen die Waffenstillstandlinien bzw. Demarkationsgrenzen u.a. dort festgelegt werden, wo bis zum 9. November 2020 nur ein Teil eines Distriktes in Berg-Karabach von aserbaidschanischen Truppen befreit wurde (vergl. das gelbe Gebiet. Die Dreiecke markieren Posten der Russischen Friedenssicherungseinheiten, auch am Lachin-Korridor).

Zu b.
Mit Druck versuchten die zwei Co-Vorsitzenden und andere Mitglieder der Minsk-Gruppe wieder an den Verhandlungstisch zu kommen und damit Einfluß auszuüben. Sehr schnell handelten der französische Präsident Macron, mit der öffentlichen Anmahnung der Belange Armeniens und seiner Bereitschaft an Lösungen mitzuarbeiten sowie beide Kammern Frankreichs mit einer sog. „NKR“ Berg-Karabach Resolution, die sich stark für die Unabhängigkeit einsetzten. Gemeint war dabei nach Nachfragen, die Unabhängigkeit des Parlamentes von Berg-Karabach, nicht aber vom Territorium Berg-Karabach selbst. Er kämpft offenbar um die institutionelle in Form einer „Autonomen Republik ..“, zumindest aber einer „Autonomen Region ..“,. Indem er diese Entscheidung nicht Aserbaidschan überlassen will, versucht er in die Souveränität einzugreifen, wobei Berg-Karabach als auf aserbaidschanischem Boden liegend jetzt auch von Frankreich (natürlich hatte es Rußland zuvor erklärt) und damit der Minsk-Gruppe anerkannt wird. „Berg-Karabach ist Aserbaidschan“. Aus Sicht Aserbaidschans wäre auch ein geringerer Grad an Autonomie für Berg-Karabach denkbar, wohl aber nicht (mehr) als eine „Autonome Republik…“. Hier kann es wieder zu Streitigkeiten und dem Ausbruch von Feindseligkeiten kommen.

Auch die deutsche Kanzlerin Merkel hat sich in einem Telefongespräch mit dem russischen Präsidenten Putin eingesetzt und auf eine weitere Kooperation in der Minsk-Gruppe gedrängt. Bemerkenswert sind zwei Dinge. Erstens: Es wurde auch über die Ukraine gesprochen, als ob ein Zusammenhang besteht oder entstehen wird. Zweitens: Es wurde über die Situation der Menschen in Berg-Karabach gesprochen – Rußland hat angesichts des nahenden harten Winter bereits humanitäre Hilfe nach Khankendi, wohin rd. 40 000 Menschen aus Eriwan wieder zurückgekehrt sind, geschickt. Deutschland scheint keinerlei Hilfe anzubieten – weder als humanitäre Winterhilfe noch in Form medizinischer Hilfe. So sind die Krankenhauskapazitäten sicherlich in beiden Ländern bereits durch die Kriegsverletzten voll beansprucht (bspw. in Aserbaidschan rd. 1260) und beide Länder leiden auch unter der Corona-Pandemie (bspw. hat Armenien offiziell rd. 150.000 Infizierte bei einer effektiven Bevölkerung von ca. 2 Millionen). Allein schon die Nachfrage, ob und wie man helfen kann oder das freie Angebot der Hilfe wäre selbstverständlich! Aber die deutsche Kanzlerin steuert scheinbar zunehmend ein Versorgungsschiff Frankreichs unter EU-Flagge. Anders Italien: Es aber sah sich vor Ort die Folgen der armenischen Terror-Beschüsse auf aserbaidschanische Städte an und ist in ständigem Kontakt.

Aber auch die beiden Ko-Vorsitzenden wurden plötzlich aktiv. Sie luden sich selbst nach Baku ein, wurden dort aus Höflichkeit kurzfristig vom aserbaidschanischen Präsidenten begrüßt und, da sie auf Nachfrage erklärten, nichts vor der Presse (Kamera) mitteilen zu wollen, auch sehr schnell wieder verabschiedet.

Die OSZE-Minsk-Gruppe erscheint per se wenig hilfreich. Eher ist eine neue Monitoring- Gruppe mit Vertretern aus Rußland, Türkei und dem Iran oder Japan denkbar. Die Minsk-Gruppe birgt in ihrer alten Zusammensetzung eher Gefahren für den Friedensprozeß.

III. Zum wirtschaftlichen Neuaufbau

Es geht bei den befreiten Gebieten nicht nur um ihre Re-Integration in die Republik Aserbaidschan, sondern infolge der Zerstörungen, Verwüstungen und „Renaturalisierungen“ bzw. eines absoluten Vandalismus um eine Art vollständiger Neubesiedelung mit dem Neuaufbau einer Infrastruktur sowie der Wohn-, Kultur- und Arbeitslandschaft.

Dabei geht es nicht um die Neubegründung eines Distriktes jeweils für sich, sondern zunächst um ein schlüssiges, widerspruchsfreies Aufbaukonzept für das insgesamt befreite Gebiet (also aller sieben Distrikte plus dem Distrikt Schuscha usw.) und darin eingebettet um ein jeweils spezifisches Programm für jeden Distrikt.

Die Herausforderung besteht dabei nicht nur in den politischen und gesellschaftlichen Erwartungen eines schnellen Erfolges und Fortschritte und dem daraus folgenden Zeitdruck, sondern vielmehr in der Gleichzeitigkeit der Planung von unten nach oben, also von den regionalen Planungen für die einzelnen Distrikte hin zur Gesamtregion aller Distrikte, als auch von oben nach unten, also aus einer Art Makroplanung runter brechend auf die Planung der einzelnen Regionen bzw. Mikroebenen. Dieses führt zur aufeinander abzustimmender Gleichzeitigkeit der Arbeiten auf beiden Ebenen. Es geht also um die Festlegung der Entwicklungs- und Planungsziele als auch die Berücksichtigung von Nebenbedingungen in Form verfügbarer Finanzmittel, Arbeitskräfte, Maschinen und Knowhow sowie konsistente Netzwerkplanungen usw.

Dabei ist der Neuaufbau zugleich eine große Chance zur Zusammenarbeit – im engeren Sinne mit Georgien und Armenien, wenn es nationale imperialistische Ziele aufgibt, sowie mit der Türkei, Rußland und auch dem Iran. Sie werden alle wirtschaftlich bei einer Zusammenarbeit zur Bewältigung der aserbaidschanischen Herkules-Aufgabe stark profitieren, insbesondere wenn sie beim Aufbau mitarbeiten. Aber der positive Effekt geht bis nach Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisien usw.

Hier wird mit der An-Diskussion ausgewählter Problemfelder nur kurz das Ausmaß der Aufgabe des Neuaufbaus (ein Projekt: Herkules) aufgezeigt.

Zu Aspekten der „Makroplanung

a. Zur religiösen und kulturellen Infrastruktur sowie zum Tourismus

Von besonderer nationaler Bedeutung erscheint die Wiederherstellung der religiösen Kultstätten und der kulturellen Infrastruktur bzw. der Kultur-Landschaft. Hier bedarf es natürlich einer Bestandsaufnahme sowie einer Gewichtung / Prioritätensetzung im Wiederaufbau von Moscheen sowie Kultstätten auch anderer Religionsgemeinschaften und auch von historisch bedeutsamen Kulturstätten. Diese Stätten/Orte dienen einerseits der Bildung und Stärkung der gemeinsamen aserbaidschanischen Identität aber auch dem Wiederaufbau des Historischen Assets Aserbaidschans, da alle Kult- und Kulturstätten aller Menschen als Asset verstanden und gepflegt werden. Diese Arbeiten werden mit großer Wahrscheinlichkeit federführend von der Haydar-Alijew-Stiftung durchgeführt werden und für die Regionalplanung in enger Zusammenarbeit mit ihr ausgeführt werden. Die Haydar-Alijew-Stiftung ist schon dadurch dafür prädestiniert, daß sie einerseits die alten Strukturen und Stätten seit dem ersten Krieg sehr sorgfältig dokumentiert hat und andererseits im Bereich Identitätsbildung und -stärkung sowie Geschichtswahrung und –Vermittlung seit ihrer Gründung sehr erfolgreich engagiert war.

Die Größe der Aufgabe ist daran zu erkennen, dass im Grunde alle Moscheen vollständig zerstört sind (drei nur stark) und auch alle Kulturstätten usw. – diese Verluste sind Teil der Wiedergutmachungs-forderungen in Höhe von mindestens 100 Billionen US-$ und verdeutlichen zugleich die Kosten des Neuaufbaus. Die Verschuldung Aserbaidschans wird erheblich wachsen, ohne dass seine Risikoprämie am internationalen Kapitalmarkt steigen wird.

Dieser „kulturelle“ Wiederaufbau stärkt zugleich den Tourismus, der ein wichtiger Sektor in der aserbaidschanischen Diversifizierungsstrategie ist, und der insbesondere mit dem modernen Ethnotourismus sowie dem anspruchsvolleren Tourismus mit individueller Routenplanung (möglichst über Landesgrenzen hinweg bzw. die Länder verbindend) international an Bedeutung gewinnt. Dieser Tourismus wird eine große Bedeutung für die Distrikte Schuscha und Khojavand gewinnen. Ein besonders wertvoller Aspekt kann die Entwicklung einer Art „Nationaler Weg der Freiheit“ oder einer Art „Nationaler Jacobs-Weg“ sein, der auf bzw. entlang der Route verläuft, die die aserbaidschanischen Gebirgsjäger zu Befreiung Schuschas sich erkämpfen mußten und dabei zugleich alle Waffen und Munition hoch tragen mußten. Dieser neue, quasi dritte Zugang nach Schuscha war einen wichtige (und überraschende) Komponente des Sieges. Mit einem „Freiheitsweg“ ist dann die Schaffung der touristischen Infrastruktur (mit Hotels bzw. Übernachtungsmöglichkeiten, Gastronomie usw.) in diesen beiden Distrikten erforderlich – aber nicht nur dort.

b. Zur Infrastruktur, insbes. der Internationalen Einbindung

Eine zweite Grundlinie der Gesamtplanung stellen die internationalen Transportwegen zu Wasser, zu Lande und auch in der Luft dar. Bezogen auf die Landwege (Straßen, Eisenbahn, Pipelines) stellen die Schaffung des Verbindungskorridors nach Nachitschewan und damit die Verbindungen nach dort und weiter in die Türkei Vorgaben für die regionalen Planungen dar. Dieses gilt insbesondere, da neue derartige Verbindungen mit geringeren Transportkosten (einschließlich Transportzeiten) und ggfs. höherer Sicherheit verbunden sind. Sie verbinden darüber hinaus andere Länder und Orte als zuvor und schaffen derart auch neue Wirtschaftsstandorte sowie Siedlungsstrukturen. Der Logistik-Sektor wird wachsen und die wirtschaftliche Bedeutung der Distrikte Fuzuli, Jabrayil und Gubadly sowie Zangilan wird relativ (im Verhältnis zu früher) steigen. So kann Aserbaidschan sich in das Netz der Seidenstraße stärker einbinden und davon profitieren. Gewinnen könnten dabei zugleich die Türkei, der ganze Südkaukasus, die zentralasiatischen Republiken sowie Rußland und damit die Eurasische Wirtschaftsunion insgesamt. Der international integrierte, aber unabhängige Wirtschaftsstandort Aserbaidschan kann und sollte weiter gestärkt werden, wenn die gesamte Infrastruktur (insbes. auch die Eisenbahnlinien) entsprechend angelegt und ausgebaut wird. Erforderlich wird der Bau eines neuen (Fracht-) Flughafens — möglicherweise in Form einer Sonderwirtschaftszone — im Distrikt Gubadly werden.

Diese Entwicklungen erfordern viel Finanzkapital. Aserbaidschan verfügt Dank „akkumulierter“ Erdöl- und Erdgaseinnahmen im Staatsfonds über Mittel, die eingesetzt werden können. Sie kommen den zukünftigen Generationen in Form der neuen Infrastruktur und Technologien zu Gute, so wie es das Ziel des Fonds ist. Darüber hinaus kann man von den am Aufbau beteiligten Firmen durchaus eine anteilige Finanzierung erwarten — u.a. brüderlich aus der Türkei wie beim Bau der Gas-Pipeline von Igdir nach Sadarak (Nachitschewan) und weiter; freundschaftlich aus Italien, welches von der Tape-pipeline profitieren wird, aber auch aus dem “Großen Bruder“ Rußland usw..

c. Zur nachhaltigen Ressourcenökonomie und Faktorknappheiten

Die dritte Grundlinie betrifft die wirtschaftlich nutzbaren natürlichen Ressourcen sowie die Umwelt und damit einen nachhaltigen Aufbau des Gesamtgebietes. Dieses wird sich auf jeder politischen Ebene als ein bedeutsames Planungsziel erweisen.
Aus der Geschichte (Archiven), den laufenden Inspektionen und auch dem völkerrechtswidrigen, das ökologische System stark schädigende Verhalten Armeniens sind derartige Nutzungen (beginnend mit der größten Goldmine im südlichen Kaukasus bis hin zur Holzgewinnung) in den Distrikten Kalbajar und Lachyn bekannt. Natürlich bedarf es genauerer Analysen über die Wirtschaftlichkeit eines nachhaltigen energie- und kapitalintensiven Abbaus/Nutzung dieser Ressourcen und ihrer Aufbereitung sowie Weiterverarbeitung im Rahmen gesamter Wertschöpfungsketten. Aber diese Regionen stehen für Vorkommen u.a. von Gold, Silber und Kupfer (man denke an Siemens und den Kupferabbau sowie die Produktion von Generatoren) sowie Blei, Quecksilber, Chrom, Sulphate und Seltene Erden ebenso wie für Wasser, auch heiße Quellen und Natur/Wald usw.

Die letztgenannten Ressourcen fördern die Entwicklung der Sektoren Gesundheitswesen (Sanatorien usw.) und Tourismus. Erstere wirken auf die Sektoren Bergbau und Industrie fördern. Damit aber können die Diversifikationsstrategien Aserbaidschans schneller und besser verfolgt werden, so daß die bisherige Abhängigkeit der Wirtschaft und der Staatsfinanzen vom Energiesektor in der Zeit Schritt für Schritt sinken wird. Damit verliert der Manat letztlich den Charakter einer sog. Commodity-currency und seine bisher mit den schwankenden Rohenergiepreisen korrelierten Wechselkursschwankungen. Er wird sich verstetigen und an Stabilität gewinnen.

Der Ausbau der „nationalen“ Infrastruktur ist an diesen regionalen Notwendigkeiten, die ua. in Abhängigkeit von den Lagerstätten sowie den zu entwickelnden relativen (internationalen) Kostenvorteilen zu bestimmen sind, auszurichten. Dazu gehört der Bau von mindestens einem neuen Flugplatz. Die genannten Sektoren sind von Anbeginn exportorientiert auszulegen.
Dabei ist bereits hier ein Bedarf an Arbeitskräften sowie Maschinen zu erwarten, der dasl verfügbare Potential Aserbaidschans (Zahl der rückkehrenden Binnenflüchtlinge usw., Humankapital usw.) übersteigt. Dieses wird dadurch verschärft, dass die befreiten Gebiete in jeder Hinsicht ausgeraubt und zerstört wurde, so daß selbst einfache Wohnhäuser und Siedlungen noch erst erstellt werden müssen. Temporäre Probleme wird es für einen Zeitraum von 4 bis 5 Jahren auch bezüglich des Importes neuer Technologien und der Ausbildung der Arbeitskräfte mit den notwendigen Kompetenzen in diesem Bereich geben können. Entsprechend bedarf es politischer Entscheidungen bezüglich der Prioritäten bzw. der Sequenz der verschiedenen notwendigen Aufbauleistungen sowie der Sequenz der Entwicklungen der einzelnen Distrikte. Letzteres wird einen asymmetrischen Aufbau der Distrikte bedeuten, bspw. in dem Sinne, dass der Aufbau des Distriktes Schuscha vor dem von Jabrayil und dem von Gubaly sowie dem von Zangilan erfolgen soll. Zugleich bedarf es einer politischen Entscheidung ob und wie weit der aserbaidschanische Arbeitsmarkt geöffnet werden kann/muß für Arbeitskräfte aus bspw. der Türkei, dem Iran und den anderen kaukasischen und zentralasiatischen Staaten. Das Anwerben von ausländischen Fachkräften erfordert Zeit und ist rechtzeitig zu beginnen.


d . Forschung und Entwicklung sowie Kultur

Schuscha wird als das kulturelle Herz Aserbaidschans verstanden. Dieses wird es auch wieder werden. Entsprechend ist der Tag der Befreiung von Schuscha der Tag der nationalen Wiedergeburt. So wie Schuscha in der Vergangenheit der Menschheit viele Kulturgüter geschenkt hat, sollte es auch in Zukunft weltoffen agieren. Es sollte in (möglicherweise einer besonders geförderten) Kultur- und Zukunftszone wieder Stätte der Kunst und Kultur sowie der Wissenschaft und Innovationen sein. Dabei könnte es von Anbeginn unter internationaler Teilnahme erfolgen. So sollten tendentiell alle Kulturnationen (mit eigener Finanzierung) eigene Musik- und Kunstinstitutionen dort errichten können wie auch eigene Forschungslabore, die dann neben oder besser zusammen mit aserbaidschanischen dort schaffen und gedeihen. Natürlich sind gemeinsame Institutionen ebenso zu begrüßen.

Aber dieses ist ein sehr sensibler Bereich und sollte gründlich überlegt und evaluiert sein. Es muß auch dem sog. einfachen Menschen möglich sein, die Natur und Kultur in Berg-Karabach zu erleben.
Aber hier gilt wahrscheinlich: Nichts ist so wenig willkommen als ein nicht erbetener Rat. Das gilt auch in der Wissenschaft und Kunst, insbesondere aber in Fragen der national kulturellen Entwicklung und Gestaltung. So ist nur zu bedenken, dass neben einer neuen Straße (bereits in der Planung) eine gesamte neue Infrastruktur mit einem Flughafen notwendig erscheint.

e.. Zur Sicherheitsstruktur

Eine weitere Grundlinie der Planung ist die Berücksichtigung und Anbindung von militärischen Einrichtungen zur Sicherung der völkerrechtlichen Grenzen Aserbaidschans.
Dieser Aspekt (einschl. der Logistik und Forschungs- sowie Produktionszentren von militärischer Ausrüstung i.w.S.) ist aber Aufgaben des Verteidigungsministeriums und damit eine Art von Vorgabe für die Gesamt- und die vielen Regionalplanungen.

IV. Kurzer Ausblick

Der „Befreiungskrieg“ bzw. der 44-Tage-Krieg führte zu einer wirtschaftlich extrem herausfordernden Aufgabe: Dem Neuaufbau von rd. 23 % des Territoriums der Republik Aserbaidschan. Es ist trotz dieser Herausforderung bzw. der damit verbundenen „Herkules-Aufgabe“ eine geschichtlich einzigartige Gelegenheit für das Zusammenleben und das Wohl der ganzen Großregion — über den Südkaukasus hinaus.

Aserbaidschan hat diese Erkenntnisse schon stets nach wenigen Tagen der Befreiung eines Gebietes u.a. ökologisch und zugleich symbolisch mit dem Pflanzen von Bäumen bspw. in den Regionen Agdam und Zangilan begonnen. Diese Aufgabe, sie wird mindestens 25 Billionen US-$ erfordern, wird es nur mit der Hilfe Dritter bewältigen können und diese Helfer zeigen sich bereits jetzt.

Dennoch bedarf es Zeit, viel Zeit – geschätzte 8 bis 10 Jahre. Aber, sofern es alle Nachbarn zulassen und den Vorteil für sich erkennen, werden die (leider nur) durch einen Krieg mit fast 3000 Toten Aserbaidschanern befreiten Distrikte und Gebiete danach prosperierende, grüne Landschaften sein.

Wilfried Fuhrmann, Stand 14.12.20

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