Bergkarabach: Schuscha und wie weiter?

By Asif Masimov Ноя10,2020
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Prof. Dr. Wilfried Fuhrmann

ist seit April 1995 Professor an der Universität Potsdam, WiSo-Fakultät, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie, insb. Makroökonomische Theorie und Politik.

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I.

Am 8.November wurde Schuscha von den aserbaidschanischen Streitkräften zurückerobert und damit befreit. Somit konnte die aserbaidschanische Flagge am 102. Flaggentag wieder über der einstigen Perle Schuscha gehisst werden.

Der Flaggentag wird seit dem 9.11.1918 gefeiert. An dem Tage wurde die aserbaidschanische Trikolore die Staatsflagge der ersten unabhängigen, souveränen Republik Aserbaidschan und sie ist es bis heute.

Schuscha liegt in Berg-Karabach und war das Musikkonservatorium des Südkaukasus sowie die Kulturhauptstadt Aserbaidschans, vergleichbar mit Weimar und Königsberg, bis zu der Besetzung durch Armenier am 8. Mai 1992 nach Tötung und Vertreibung aller (rd. 20.000) Aserbaidschaner aus dem Distrikt Schuscha. Von den 198 bedeutsamen architektonischen historischen Monumenten wurden 147 zerstört, von den restlichen 51 Monumenten ist nichts bekannt. Von den 15 Museen i.w.S. sind mindestens 13 zerstört. Bei den Büchereien und Schulen und Gemeindezentren sieht es ähnlich aus. Und doch wird davon ausgegangen, dass Schuscha wieder entsteht, aufblüht und über Aserbaidschan hinauswirkt.

 

Die Zahl der mit der Befreiung verbundenen Toten (beider Seiten) sind unbekannt, sie wird auf 1500 bis 4500 geschätzt. Die mögliche Zahl ziviler Toter ist dabei weder für Schuscha bekannt noch für den Fall der Befreiung von Berg-Karabach zu schätzen. Allerdings sind nach armenischen Angaben 70 % der Zivilisten aus der Region geflohen/evakuiert worden, so daß höchstens nach 30. Tsd. Menschen insgesamt dort sind. Darunter sind auch bis zu 80 Journalisten, die auch die Region nicht mehr verlassen können (höchstens über Gebirgsschleichwege), da die sog. Regierung von Berg-Karabach die beiden Straßen nach Armenien gesperrt hat. Es sind die Straße durch den Lachin-Korridor und die Straße von Khenkendi durch den (aserbaidschanischen) Distrikt Kalbajar nach Armenien. Diesen Menschen ist Versorgung und Sicherheit zugesagt. Vertreibungen wie vor 28 Jahren seitens der Armenier wird es, so der aserbaidschanische Präsident, nicht geben.

 

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II.

Der Kampf geht weiter, einerseits wendet sich die aserbaidschanische Armee nach Südost in den Distrikt Khojavend, der an den zwischenzeitlich befreiten Distrikt Fuzuli grenzt und von dort schon teilweise befreit ist. Zum anderen folgt die Armee der Straße nach der 10 km entfernten (und tiefer gelegenen) Stadt Khenkendi (armenisch: Stepanakert), der Hauptstadt der sog. Republik Bergkarabach. Die Einnahme durch Aserbaidschan ist wohl keine Frage des ob, sondern nur des wann und zu welchem Preis (Toten).

Ebenso erscheint die Frage nach der Dauer der Kämpfe klar zu sein: Bis zur Befreiung aller Distrikte/Regionen, die innerhalb den völkerrechtlichen Grenzen Aserbaidschans liegen bzw. bis Aserbaidschan die Kontrolle über sein gesamtes Staatsgebiet wieder erlangt hat.

 

 

 

III.

Natürlich hängt die weitere Dauer des Krieges auch vom Verhalten Armeniens ab. Es gibt viele Möglichkeiten bzw. denkbare Szenarien in diesem Politikfeld.

 

III. a.

Erstens kann Armenien jederzeit verbindlich die Rückgabe der sieben aserbaidschanischen Gebiete, die Berg-Karabach umgeben, erklären, die Waffen schweigen lassen und sich ehrenhaft zurückziehen. Dann wird Aserbaidschan seine Streitkräfte ebenfalls stoppen.

Der Prozeß kann ablaufen, indem Armenien innerhalb von 14 Tagen alle noch besetzte Distrikte räumt und aserbaidschanische Kräfte nach und nach dort einmarschieren — oder indem Armenien, so wie es sich Rußland scheinbar vorstellt, fünf Distrikte unmittelbar räumt und in 14 Tagen die letzten beiden.

 

Zu diesem Szenario oder Plan stehen allerdings die fortgesetzten Bombardierungen und Beschüsse von aserbaidschanischen Städten weit im Hinterland (wie Barda, Ganja und Terter sowie in Richtung der Pipelines) durch Armenien im Gegensatz. Es scheint für diesen Plan also eher keine Bereitschaft des westlich orientierten armenischen Präsidenten Nikol Paschinjan sowie der armenischen Eliten zu bestehen, obwohl es Berichte gibt, dass der Kommandeur der armenischen Besatzungsstreitkräfte die russische Forderung nach Rückgabe der sieben besetzten Distrikte unterstützt. Es stellt sich die Frage: warum gibt es diese Einsicht, die Bereitschaft nicht? Schließlich könnte Armenien sehr viele eigene Tote, sehr viel Leid der Menschen sowie viele Zerstörungen ziviler und kultureller Einrichtungen sowie militärischen Gerätes vermeiden. Schließlich scheint es ohne eine Ausweitung des Krieges durch das Eingreifen eines Dritten keine Möglichkeit zu geben, die Freigabe dieser Distrikte dauerhaft zu verhindern. Deshalb wird spekuliert über: eine schnell erwartete Hilfe von Drittstaaten (aus Europa) und/oder der Diaspora und damit eine Ausweitung des Krieges möglicherweise in Verbindung mit einem „Ausfallangriff“ in Richtung Pipelines und Kaspi See über den besetzten Distrikt Kalbajar. Der jetzige „Binnenkrieg“ um aserbaidschanische Distrikte auf aserbaidschanischem Territorium wird dann zu einem internationalen Krieg – dessen Ausmaße nicht abschätzbar sind.

Möglich erscheint aber auch ein Mangel an Rationalität und Realitätssinn im Falle fanatischer (Teile der) armenischen Eliten (in Armenien oder in der Diaspora), die einen (permanenten) kulturellen Krieg zu führen scheinen.

 

III. b.

Zweitens kann Armenien oder die sog. Regierung der de facto Republik Berg-Karabach eine Erklärung bezüglich Berg-Karabach abgeben. Diese Erklärung kann ebenfalls die unmittelbare Waffenruhe und Übergabe beinhalten bei der Forderung nach Zusicherung freien Geleits für alle Menschen, die Berg-Karabach verlassen wollen. Die Vorteile sind ansonsten vergleichbar den unter a. diskutierten Vorteilen.

 

Es kann aber auch den Waffenstillstandsüberlegungen von Rußland und der Türkei zustimmen bzw. die Einsetzung einer Plattform wie einer OSZE-Minsk-Gruppe mit der Aufgabe der Moderation als Bedingung setzen. Dieses muß allerdings schnell erfolgen, denn die territoriale Verhandlungsmasse schrumpft täglich, da die aserbaidschanischen Streitkräfte wahrscheinlich schon bald mit erhöhten Anstrengungen versuchen werden, möglichst viel Boden in Berg-Karabach zu befreien. Und über befreite Gebiete wird es nicht verhandeln.

 

Der erbitterte Kampf um Schuscha sowie seine Eroberung haben die im Falle einer friedlichen Übergabe die angedachte Einrichtung einer Autonomen Republik Berg-Karabach schon sehr unwahrscheinlich werden lassen. Die Wahrscheinlichkeit für eine Autonome Region Berg-Karabach wird möglicherweise ebenfalls mit jedem Tag niedriger. Es bleibt die Möglichkeit einer kulturellen aserbaidschanischen Sonderzone Berg-Karabach.

 

Diese begrenzte Moderation durch bspw. eine OSZE-Minsk-Gruppe setzt die grundlegende Neuformierung der alten, 27-Jahre unfruchtbaren Gruppe voraus. Die Aufforderungen deutscher Politiker zur Rückkehr an den Verhandlungstisch erscheinen von Anfang an leer, ohne zu sagen an welchen Tisch.

Es bedarf – durchaus unabhängig von der OSZE — eines wesentlich kleineren Formates: bspw. mit drei Vertretern von Drittstaaten. Die intensiven Bemühungen von Rußland sowie der Türkei und ihrer Bedeutungen für die Republik Armenien sowie die Republik Aserbaidschan machen beide Länder quasi zu „geborenen“ Mediatoren. Hinzu kommen sollte ein international gewichtiges Land ohne Eigeninteressen wie bspw. Japan. Dieses Format (2 + 3) kann sich spontan selbständig im Einvernehmen mit beiden Ethnien bilden oder es bedarf viel Zeit.

 

III. c.

Sollte es zu einem Waffenstillstand in Berg-Karabach kommen und sollte dann noch eine nennenswerte Anzahl an Personen armenischer Staatsbürgerschaft dort noch lebender Armenier weiterhin dort wohnen bleiben wollen, dann ist die Frage zu klären, ob es Sonderregelungen für diese geben sollten (wie jederzeitige Ausreise, eigene Schulen usw.) und ob diese alle per Gesetz mit Verfassungsrang in Aserbaidschan zu sichern sind oder ob es auch eines „Armenischen Korridors nach Berg-Karabach“ oder einer freien Transitroute bedarf.

Dieses aber wird Aserbaidschan wahrscheinlich nur im Falle eines „Tausches“ akzeptieren. Somit wird es dann auch einen ständigen freien Korridor, Transitroute nach Nachitschewan fordern und in einem Vorschlag erwarten.

 

IV.

Angesichts des Verhaltens Armeniens in den letzten 27 Jahren ist mit einer derartigen Bereitschaft und friedlichen Lösungen eher nicht zu rechnen. Diese Einschätzung wird verstärkt nicht nur die gegenwärtige armenische Kriegsführung, sondern auch durch seine Geo-Politik.

So bedrängt Armenien immer wieder Rußland um Hilfe und fordert sein Eingreifen, verkündet zur Zeit aber gleichzeitig auch den fast fertigen Ratifikationsprozeß des EU-CEPA (EU- Comprehensive and Enhanced Partnership Agreements) bei gleichzeitigen Äußerungen von Politikern, mit Moskau zu brechen — wegen fehlender Unterstützung sowie der starken Kritik am Verhalten Armeniens durch die anderen Partner des Solidarischen-Sicherheits-paktes (Kasachstan, Kirgisien usw.). Hier erscheint der Versuch einer Art der politischen Erpressung nicht ausgeschlossen. Rußland steht unter starkem politischen Druck vor schwierigen Entscheidungen. Mittels eines derartigen Agreements hat die EU auch die Republik Moldau (in Grenzen einschl. von Transnistrien) an sich gebunden und den Einfluß Rußlands derart zurückgedrängt.

 

 

 

Ungewöhnlich aber ist, dass die EU unter der deutschen Präsidentschaft den Prozeß der Ratifikation durch alle Mitgliedsstaaten scheinbar zielstrebig vorantreibt obwohl das Land sich in einem Krieg mit einem Nachbarland befindet. Diese kann als ein Indikator einer (nicht nur?) finanziellen Unterstützung Armeniens durch Frankreich und damit durch Deutschland sowie der anderen Mitglieder der EU verstanden werden. Politische und journalistische Äußerungen bspw. in Deutschland vertreten nahezu alle die armenische Sicht und scheinen die Befreiungen von aserbaidschanischen Gebieten, Städten usw. als militärische Eroberungen armenischen Landes zu sehen.

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